ETH Zürich setzt auf Computer als zusätzliche Mathe-Tutoren
Die ETH Zürich zählt immer mehr Studierende – und bei allen gehören Mathematikvorlesungen zum Studienplan. Allerdings stagniert die Zahl der Dozierenden und Assistierenden, welche Übungen betreuen, gelöste Aufgaben korrigieren und Feedbacks geben können. Dabei ist Repetition und Übung bei den Mathematik-Grundlagen zentral.
Einige Dozierende stellen deshalb ihre Vorlesungen und Übungen auf computerbasierte Übungen um. Meike Akveld und Andreas Steiger geben Grundlagen-Vorlesungen am Departement Mathematik und haben eine grosse Sammlung von Mathematik-Fragen und einen Integral-Trainer erarbeitet. Sie basieren auf einem speziellen Fragetyp für mathematische Ausdrücke für die Lernplattform “Moodle”, den sogenannten Stack-Fragen.
Frau Akveld, Herr Steiger, Mathematik am Computer zu üben, das klingt für mich als Laien eigentlich naheliegend. Was steckt hinter der Neuerung?
Akveld: Das mag auf den ersten Blick schon unspektakulär klingen, aber das Ding ist kein Taschenrechner. Dank den Stack-Fragen können wir den Studierenden Fragen stellen, die sie mit mathematischen Ausdrücken, zum Beispiel mit Polynomen, beantworten können. Das Programm prüft zuerst die Syntax, also die «Rechtschreibung» der Ausdrücke und korrigiert danach die Lösung auf Knopfdruck, inklusive Feedback zu gemachten Fehlern.
Wo liegen die Herausforderungen bei einem solchen System?
Steiger: Die Komplexität steckt in der Didaktik. Etwa in der Art und Weise, wie wir Aufgaben gliedern können. Mit Stack können wir Teilschritte bewerten. Dieses Aufbauende, dieses «Schritt-für-Schritt», das in der Mathematik so wichtig ist und traditionellerweise an der Wandtafel geschieht, das lässt sich in Stack gut nachbilden. Ein solches System zu bauen, brauchte Zeit und Erfahrungen. 2005 wurde es zum ersten Mal vorgestellt, jetzt scheint es in der Breite angekommen zu sein.
Was führte zum Durchbruch?
Steiger: Die Pandemie hat dem Schub verliehen, weil ganz viele Leute plötzlich Aufgaben in Stack geschrieben und begonnen haben, diese zu teilen. Und das System ist sehr benutzerfreundlich geworden.
Was haben die Studierenden davon?
Steiger: Mathematik-Grundlagen muss man vor allem üben. Mit den Stack-Übungen können das Studierende beliebig oft und wann immer sie wollen tun. Und die erhalten sofort Feedback. Das stösst auf grossen Anklang. Wir sehen das in den Feedbacks zu den Kursen aber auch in den Statistiken: Die Studierenden üben oft und viel damit.
Akveld: …und das wiederum hilft uns Dozierenden: Je mehr sie üben, desto besser sehen wir, wo die Studierenden Fehler machen. Mit Stack kommen alle diese Informationen zentral zusammen und anhand der Analysen können wir spezifische Tipps und Hinweise in die Übungen einbauen.
Zusätzlich zur Fragen-Sammlung haben Sie einen Integraltrainer entwickelt. Weshalb?
Steiger: Beim Integrieren sehen wir grosse Niveauunterschiede. Je nach Schwerpunktfach im Gymnasium und je nach Erfahrung haben das manche Studienanfänger im Griff, andere brauchen noch Übung. In einer Vorlesung mit 700 Studierenden ist ein Tool, mit dem die Studierenden individuell genau das üben können, was sie benötigen, extrem willkommen.
Wie funktioniert der Trainer?
Steiger: Mit dem Integraltrainer können die Studierenden die verschiedenen Techniken, die man dazu beherrschen muss, zuerst einzeln und so oft wie nötig üben, mit Hilfestellungen in Form von Hinweisen oder automatisierten Feedbacks. Am Schluss erhalten sie offenere Aufgaben, bei denen sie die richtige Technik wählen und dann anwenden müssen. Wir haben uns den Aufbau der Übungen und die Hilfestellungen überlegt und den Trainer mithilfe von Stack dann programmiert. Wir konnten damit zeigen, dass man mit diesem Tool nicht nur einfach Übungssammlungen digitalisieren, sondern eigentliche Trainings mit spezifischem Aufbau und Abläufen bauen kann.
Könnte das Tool auch ausserhalb der ETH Zürich Anwendung finden?
Steiger: Ja, es kommen auch Anfragen von Mittelschulen in der Schweiz und aus dem Ausland. Rund um die Stack-Fragen gibt es eine sehr aktive Community, das Ganze ist Open Source (der Quellcode ist öffentlich, Anm. d. Red.) und der Austausch ist sehr intensiv und schnell. Der Vorteil an den Stack-Fragen ist, dass man sie sehr einfach teilen kann. Wir profitieren davon, was andere erarbeiten.
Wo steht die ETH Zürich international in der Verwendung von Stack?
Steiger: Wir haben erst vor kurzem mit STACK angefangen, haben mit dem Integraltrainer aber schon auch Interesse geweckt. Ganz vorne dabei ist die University of Edinburgh, wo Chris Sangwin, der Entwickler von Stack, lehrt. Die Open University, eine Fernuniversität, verwendet das Tool auch intensiv. In vielen Ländern gibt es Kooperationen von Universitäten, die gemeinsam Datenbanken mit Mathematik-Aufgaben für Stack aufbauen. Bayern will Stack bald bei Gymnasien einführen. Das Thema nimmt gerade richtig Fahrt auf.
Kann man das Tool auch für Prüfungen einsetzen?
Akveld: Ja, soeben haben Studierende des ersten Jahres in einem Analysis-Kurs die erste Prüfung mit Stack abgelegt. Stack könnte für Mathematik-Prüfungen an der ETH Zürich recht entscheidend werden, denn wir haben immer mehr Studierende, die wir prüfen müssen, können aber mit dem Personal nicht nachziehen. Die konventionelle Lösung wäre gewesen, mehr Multiple-Choice-Prüfungen zu machen, denn die lassen sich auch automatisiert korrigieren. Multiple Choice ist aber beschränkt in dem, was sich abfragen lässt. Mit Stack behalten wir mehr Freiheiten in der Aufgabengestaltung, können Prüfungen aber trotzdem automatisch auswerten. Zudem ist die Durchführung einfacher, weil dank Randomisierung jeder Studierende Aufgaben mit spezifischen Werten erhält.
Wo hat die Methode ihre Grenzen?
Steiger: Mit Stack können wir Dinge prüfen oder üben, die nach mathematischen Ausdrücken fragen. Und das ist vor allem bei Grundlagen der Fall. Im Mathematikstudium geht es dann vielmehr um eine Denkweise und Begriffe, und wie sie zusammenhängen. Dafür ist Stack weniger gut geeignet als für Rechnungsaufgaben, wie wir sie bei Ingenieuren und Naturwissenschaftlern stellen.
Wie verändert die Methode Ihre Kurse?
Akveld: Die Studierenden bleiben dadurch aktiver. Es gibt in der Vorlesung immer Sequenzen, in denen ich Lösungsmethoden für bestimmte Probleme herleite. Das Vortragen dieser Sequenzen ist weder für die Dozierenden noch für die Studierenden besonders spannend. Solche Sequenzen kann ich mit Sequenzen in Stack ersetzen, bei denen die Studierenden die Lösungsmethode mit Hilfestellungen Schritt für Schritt selber durchspielen. Sie verstehen dadurch oft leichter, als wenn sie bei mir abschauen.
Wir erinnern uns alle an das beklemmende Gefühl aus dem Mathe-Unterricht, wenn man in der Hälfte der Herleitung auf der Wandtafel hängen bleibt…
Akveld: Genau – und dann schreiben Sie nur noch mit und verstehen es gar nicht. Wenn ich stattdessen ein Lernmodul mit Stack-Fragen für zuhause anbiete, drücken Sie einfach «refresh» und beginnen nochmals, bis Sie es verstehen. Wenn ich den Studierenden zur Vorbereitung Stack-Fragen biete, kann ich zudem Tipps und Hilfestellungen einbauen an den Stellen, wo sie erfahrungsgemäss oft Fehler machen. Und wenn sie dann vorbereitet in den Unterricht kommen, kann ich die Vorlesungszeit besser nutzen, um ein tieferes Verständnis der Materie zu erreichen.
Sie investieren viel Zeit in diese Methode. Was motiviert Sie?
Akveld: Ich kann mit dem Tool didaktische Ideen umsetzen, die ich schon lange mit mir herumtrage und die dazu beitragen sollen, Mathematik für alle zugänglich zu machen. Ich bin überzeugt, dass das Verständnis in der Mathematik mit jeder gelösten Übung wächst. Es braucht viel individuelle Auseinandersetzung. Und dafür ist Stack ein gutes Hilfsmittel.
Steiger: …ja, es ist meine Aufgabe, möglichst viele Studentinnen und Studenten möglichst weit zu bringen. Und weil sie so unterschiedlich sind, brauchen wir sehr unterschiedliche Mittel und Methoden. Ich möchte allen die Möglichkeit geben, die für ihr Fach notwendige Mathematik zu verstehen. Stack ist eine Möglichkeit mehr, genau das zu erreichen.