In der Natur lernen
Das Messgerät piept ohrenbetäubend. Der hohe Ton ist kaum auszuhalten. Kursleiter Matthias Willmann entfernt kurzerhand die Batterie. Seine Studierenden schmunzeln und lassen das Kabel vorsichtig weiter in das Bohrloch gleiten, um Messungen im Grundwasser zu machen.
Carole, Gianna, Raffaele und Robyn sind erst vor ein paar Stunden hier im Wald beim Hornusserclub in Kappelen (Bern) angekommen. Die ETH-Studierenden besuchen ein dreitägiges Modul des Masters Umweltingenieurwissenschaften. Es wird durchgeführt vom gleichnamigen ETH-Institut. Matthias Willmann ist seit 15 Jahren dabei. Zuerst noch als ETH-Mitarbeiter, mittlerweile als externer Experte. Die gut 20 Studierenden beschäftigen sich mit Grundwasser und Boden. Gerade hat Willmann der vierköpfigen Gruppe erklärt, dass es hier im Wald 16 Bohrlöcher gibt. Die mehr als 10 Meter langen senkrechten Röhren sind auf einer bestimmten Höhe durchlässig. Dort gelangt Grundwasser hinein, das sich von oben analysieren lässt.
In einem ersten Experiment muss die Gruppe den Grundwasserspiegel und die Unterkante der Bohrlöcher messen. Matthias Willmann hat dazu zwei Kabellichtlote aus dem Materialzelt geholt. Die sehen aus wie Kabelrollen. Allerdings ist das Kabel gleichzeitig ein Messband und an der Stelle des Steckers befindet sich ein metallener Stift, die Messsonde. Diese sollen die Studierenden vorsichtig in das Bohrloch gleiten lassen. Matthias Willmann erklärt: «Sobald der Stift mit dem Grundwasser in Kontakt kommt, wird Strom geleitet und das kleine Lämpchen beginnt zu leuchten.» Und es gibt Modelle, die zusätzlich ein akustisches Signal geben.
Gefühl für die Praxis
Die vier Masterstudierenden haben es schnell begriffen. Erst mal üben sie gemeinsam. Mittlerweile wieder mit eingesetzter Batterie. Raffaele lässt das Kabel vorsichtig in die Röhre gleiten, Carole hilft ihm dabei. Sobald Licht und Ton angehen, nimmt Robyn Mass. Der Grundwasserspiegel beim Bohrloch 3.1 liegt bei 3 Metern und 95 Zentimetern. Gianna notiert den Wert. Dann lässt Raffaele das Kabel weitergleiten, bis er einen leichten Widerstand spürt, um so das untere Ende des Borlochs zu ermitteln. «Es braucht viel Gefühl», weiss Matthias Willmann. Raffaele hält inne und Robyn liest den Wert ab.
Später werden die vier eine Karte der Bohrlöcher erstellen und jeweils die Höhe des Grundwassers einzeichnen. Von dieser Karte kann man die Fliessrichtung des Grundwassers herauslesen. «Die Studierenden bekommen hier ein Gefühl für die Praxis und die Realität», sagt der Kursleiter. «Die Aha-Erlebnisse zeigen, dass die Arbeit im Feld lehrreich und wichtig ist.» Das sieht auch Joaquín Jiménez-Martínez so, der den Kurs gemeinsam mit Mattias Willmann leitet.
Joaquín Jiménez-Martínez hat sich zusammen mit der Abteilung Lehrentwicklung und -technologie der ETH Zürich mit dem Unterricht im Feld auseinandergesetzt. «Es ist eine andere Art zu unterrichten, wenn die Verbindung zur Natur da ist», sagt der Wissenschaftler, der an der ETH Zürich und der Eawag als Gruppenleiter arbeitet. «Wir Dozierenden geben eine kleine Einführung, machen dann aber einen Schritt zurück und lassen die Studierenden messen, ausprobieren und lernen.» Er würde gerne noch länger über die Vorteile des Kurses schwärmen, aber sein Zug in Lyss fährt. Er muss zurück nach Zürich.
Mittlerweile messen die Studierenden mit einer Sonde die Temperatur und die Leitfähigkeit des Grundwassers. Wie zu erwarten, hat das Wasser in einer Tiefe zwischen 10 und 12 Metern 11 Grad Celsius. Die vertikale Verteilung der Leitfähigkeit des Wassers sagt etwas über seine Durchmischung aus. Die ist hier in Kappelen gut. Ihr Wert kann aber auch ein Hinweis auf Schadstoffe sein. Verschmutztes Grundwasser ist natürlich verheerend. In der Schweiz zum Beispiel wird 80 Prozent des Trinkwassers aus Grundwasser gewonnen.
Alles grösser
Schon ist die Zeit für das erste Experiment um und die vier Studierenden gehen weiter zu Lucien Biolley, Laborleiter am Institut für Umweltingenieurwissenschaften. Gemeinsam mit Marius Floriancic hält er die Feldtechnik das ganze Jahr über auf Vordermann und bereitet das Material für das Modul vor – nicht weniger als zwei Transporter und zwei vollgepackte Anhänger werden jedes Jahr vom Hönggerberg nach Kappelen gefahren. Lucien Biolley erklärt nun, wie der Grundwasserspiegel mit einem Drucksensor kontinuierlich gemessen werden kann. Die blauen Schläuche in den Bohrlochdeckeln beherbergen die Kabel, die die Messwerte zur Datenbox leiten. Dort werden die Daten gesammelt und können sogar in Zürich abgerufen werden. Später werden die Studierenden die Daten der letzten fünf Jahre bekommen und am Computer auswerten. Jetzt heisst es aber zuerst anpacken!
Carole, Gianna, Raffaele und Robyn müssen mit einer Schubkarre einen 1000-Liter-Wassertank holen. Zum Glück ist er leer – noch. Denn kaum haben sie ihn in der Nähe eines Bohrlochs abgeladen, installieren sie dort eine Pumpe und beginnen, den Tank mit Grundwasser zu füllen. Das Wasser wird am Abend eingefärbt und für einen Markierversuch gebraucht. «Ich mag, dass hier im Feld alles so gross ist», sagt Lucien Biolley. «Die Geräte sind zum Anfassen. Das hilft beim Verstehen.»
Darin sind sich auch die vier Studierenden einig. Robyn und Carole haben ihren Bachelor in den Umweltnaturwissenschaften gemacht und für den Master zu den Umweltingenieurwissenschaften gewechselt. «Mich faszinieren die technischen Lösungen bei Umweltfragen. Ich mag die praktische Herangehensweise», sagt Carole. Und Robyn ergänzt: «Wir lernen hier nicht nur inhaltlich viel, mir gibt dieses Modul auch einen wichtigen Einblick, wie der Beruf der Umweltingenieurin aussehen kann.»
Wald oder Wiese?
Bevor der Markierversuch startet, treffen die vier Marius Floriancic beim Hornusserhaus. Bei ihm geht es um die Feuchtigkeit im Boden. Um zu messen, wie viel Wasser ein Boden aufnehmen kann, müssen Tensiometer zusammengebaut werden. Das sind kleine wassergefüllte Röhren mit einem Keramikteil am Ende. Je trockener der Boden, desto einfacher gelangt das Wasser aus der Keramik in die Umgebung. Deshalb stecken die Studierenden die Röhrchen unterschiedlich tief in den Waldboden und lesen die jeweilige Saugspannung ab, ein Mass für die Wasseraufnahmefähigkeit des Bodens.
Dann kommt das zweite Messgerät zum Einsatz. Eine grosse Gabel, die schlicht die Bodenfeuchte misst. Marius Floriancic will wissen, wo der Boden prinzipiell feuchter ist: im Wald oder auf der offenen Wiese? Studierende, Autorin, Fotografin, alle sind sich einig: «Wald!» Zur Überraschung aller zeigen die gemessenen Werte das Gegenteil. Gemeinsam suchen die Studierenden und der Dozent nach Gründen: Bei Regen halten die Baumkronen und die Streu am Waldboden Wasser zurück. Bäume entziehen dem Boden mehr Wasser als Gras. Und schliesslich ist Waldboden durchlässiger und es versickert mehr Wasser als beim dichten Wiesenboden.
«Rechnen und Modellieren, das haben ETH-Studierende wirklich im Griff. Aber die Arbeit hier im Feld hilft ihnen, ihr Grundlagenwissen auch praktisch anzuwenden», sagt Marius Floriancic und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dann wird er ernst: «Dieses Modul ist teuer, aber die Investition lohnt sich.» Und dann müssen alle los zurück in den Wald zum Wassertank, wo Lucien Biolley den farbigen Markierstoff hineingiesst. Vom Tank strömt das gefärbte Wasser durch einen dicken Schlauch in eines der Bohrlöcher ins Grundwasser. Etwa 30 Meter entfernt wird bei einem anderen Bohrloch Grundwasser hochgepumpt und durch einen Farbdetektor geleitet. Es wird noch dauern, bis das gefärbte Wasser ankommt.
Für heute haben die Studierenden genug praktisch gearbeitet. Sie werden später noch am Computer Daten auswerten. Genau dies gefällt Raffaele: «Die Kombination aus Feld und Computer finde ich spannend.» Auch Gianna gefällt die Abwechslung. Die Stipendiatin des Excellence Scholarship & Opportunity Programme der ETH bringt es auf den Punkt: «Die Mischung aus Technik und Natur macht für mich den Reiz der Umweltingenieurwissenschaften aus.»
Förderung innovativer Lehre
Die Lehrveranstaltungen des Labors für Umweltingenieurwissenschaften werden seit Mai 2023 als Innovedum-Projekt gefördert. Gemeinsam mit der Abteilung Lehrentwicklung und -technologie soll die Auswertung von Daten vereinfacht werden. Damit bleibt den Studierenden mehr Zeit für weiterführende Dateninterpretation und kritische Betrachtung von Messresultaten. Innovative Beurteilungsmethoden, wie zum Beispiel Peer Grading, stärken die Reflexion.