Kinder kreieren die Zukunft der Kreislaufwirtschaft
Wie reisen wir in der Zukunft? Laut Samuel, 10, werden wir anstatt Flugzeuge solarbetriebene Luftschiffe nutzen. Lara, 10, sieht den Verkehr auf drei unterirdischen Ebenen für Autos, U-Bahn und Züge. Andere Kinder stellen sich Autos vor, die mit Kompost oder Windkraft angetrieben werden. Und vielleicht, ergänzt der neunjährige Lars, machen wir Ferien im Simulator oder im gemütlich warmen Gewächshaus nebenan und müssen gar nicht so oft verreisen.
Die 13 Kinder der dritten bis sechsten Klasse, die sich an einem Mittwochvormittag in einem Schulzimmer der Pädagogischen Hochschule St. Gallen (PHSG) versammelt haben, sprudeln nur so vor Ideen. Das ganze Semester lang haben sie im Unterricht Themen rund um Umwelt, Energie und nachhaltige Kreisläufe kennengelernt und sich in kleinen Gruppen Gedanken dazu gemacht, wie die Menschen in Zukunft nachhaltiger essen, wohnen, reisen und lernen könnten.
Heute sind die Gespräche in den Gruppen besonders angeregt, denn die Kinder haben Besuch: An jedem Tisch sitzen auch Forschende des Empa-Labors «Technologie und Gesellschaft». Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellen Fragen, erklären Zusammenhänge und liefern die wissenschaftliche Basis für die kreativen Ideen der Kinder. Hier geht es um mehr als nur um Austausch: Gemeinsam arbeiten Kinder und Forschende an einem Kinderbuch über Kreislaufwirtschaft.
Zukunftsvision statt trockener Zahlen
Das Projekt, das den offiziellen Titel «Co-creating Circular Futures» trägt, wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) im Rahmen des Agora-Programms unterstützt, gemeinsam mit dem Haushaltsgerätehersteller V-Zug und dem Wirtschaftsverband SWICO. Die Idee dafür kam Projektinitiator Harald Desing während des Covid-Lockdowns. «Ich merkte, dass die Kinderbücher meiner beiden Söhne fast ausschliesslich die Welt von gestern darstellten», erzählt der Empa-Forscher.
In seiner Arbeit beschäftigt sich Desing mit Zukunftsthemen wie eben der Kreislaufwirtschaft. «Wenn wir als Wissenschaftler von einer kreislauffähigen und nachhaltigen Zukunft sprechen, ist das sehr abstrakt», sagt er. «Wir zeigen trockene und zuweilen schwer verständliche Zahlen, Formeln und Diagramme.» Um die Gesellschaft zum Handeln zu bewegen, ist der Forscher überzeugt, braucht es mehr als Fakten: Es braucht eine Vision.
Genau eine solche erarbeiten die Empa-Forschenden nun gemeinsam mit den Schulkindern sowie Dozierenden und Studierenden der PHSG. Die Kinder bringen ihre Kreativität und Unvoreingenommenheit ein, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schaffen den Realitätsbezug. «Erwachsene haben bereits feste Vorstellungen davon, wie unser System funktioniert», sagt Desing. «Fragt man sie nach Lösungen für unsere Zukunft, bekommt man tausend Gründe, wieso dieses oder jenes nicht funktionieren wird. Fragt man aber Kinder, bekommt man tausend Ideen.»
Für das Projekt spannt Desing mit der Begabtenförderung an der PHSG zusammen. «Diese Themen kann man mit allen Kindern anschauen, nicht nur mit den begabten», betont Marion Rogalla, Leiterin der Begabtenförderung Rorschach und Rorschacherberg und Erziehungswissenschaftlerin an der PHSG. Die Begabtenförderung eignet sich vor allem aus organisatorischen Gründen für ein solches Projekt. «Die Kinder kommen das ganze Semester lang für einen Vormittag pro Woche zu uns, und wir haben Zeit, mit ihnen in ein Thema einzutauchen, etwa mit Spielen, Experimenten, fachlichen Inputs, Theaterszenen und skizzenhaften Tagebüchern.»
Von Fleischbäumen und Solarzügen
Obwohl viele Erwachsene Nachhaltigkeitsthemen nicht nur mit positiven Gefühlen angehen, ticken Kinder anders, weiss Harald Desing. «Die Kinder sind offen. Sie lassen sich gerne von neuen Ideen überzeugen und haben grosse Freude am Lernen», sagt er. Die Kinder bestätigen das. «Es macht Spass, die eigene Fantasie zu brauchen, um sich Sachen für die Zukunft auszudenken», sagt der neunjährige Lars. «Am besten gefällt mir unsere Idee für einen Zug, der mit Solarpanels seinen eigenen Strom produziert und auch den Bahnhof über die Oberleitung mit Strom versorgt.»
Die älteren Kinder sind ebenfalls begeistert. «Ich habe viel über Umwelt und Nachhaltigkeit gelernt. Das war sehr spannend», erzählt Loreleyn, 13. Arjan, 12, ergänzt: «Ich wusste nicht, dass es mehrere Millionen Jahre dauert, bis sich eine weggeworfene Glasflasche zersetzt!» Während Arjan ganz pragmatisch von Elektroautos und effizienten Geräten spricht, schwärmt Loreleyn vom «Fleischbaum». «Es gibt viele Menschen, die gerne Fleisch essen. Wenn wir Fleisch wie eine Pflanze anbauen können, wäre das viel nachhaltiger», sagt sie. «Natürlich ist der Fleischbaum nur eine Vorstellung – aber es gibt ja heute schon Labors, wo man Fleisch herstellt, ohne dafür Tiere zu töten», weiss das Mädchen.
Und auch die Forschenden haben Spass an der Zusammenarbeit mit den Kindern. «Sie haben sehr viele Ideen erhalten und stellen uns auch viele Fragen», freut sich Desing. In einem ersten gemeinsamen Workshop haben die Kinder und die Forschenden Visionen für nachhaltige Städte der Zukunft entwickelt. In einem zweiten Workshop wird es darum gehen, eine Geschichte zu erzählen, die in dieser Welt spielt. Auf der Grundlage dieser beiden Workshops entwirft die Designerin und Künstlerin Maya Ivanova das illustrierte Kinderbuch, das voraussichtlich Anfang 2024 veröffentlicht wird. Mit zusätzlichem Begleitmaterial, das die PHSG entwickelt, kann das Buch dann auch im Unterricht zum Einsatz kommen.
Beim Kinderbuchprojekt geht es nicht darum, die Zukunft vorherzusagen und den einzigen richtigen Weg zu einer nachhaltigen Welt aufzuzeigen. «Wir wollen damit Denkanstösse liefern», so Desing. Und wer weiss – vielleicht bietet die eine oder andere Idee der Kinder auch einen Impuls für die Forschung.
Den Nachwuchs begeistern
Vor allem wissenschaftlich-technische Berufe haben derzeit Nachwuchsprobleme. Um Schulkinder für Naturwissenschaften und Technik zu begeistern, laufen an der Empa verschiedene Initiativen. So begrüsst die Empa jedes Jahr rund 100 Kinder der 5. bis 7. Klasse am Nationalen Zukunftstag und bietet regelmässig Führungen für Schulklassen an. Im Bildungslab Smartfeld in St. Gallen, an dem die Empa beteiligt ist, verbinden Kinder und Jugendliche in Kursen und Experimentierräumen Technologie mit Kreativität. In Dübendorf findet jedes Jahr ein Sommercamp statt, an dem Kinder Einblicke in die Welt der Forschung erhalten. Ausserdem engagieren sich viele Empa-Forschende als Botschafter, etwa bei den Internationalen Wissenschaftsolympiaden und bei den «TecDays» / «TecNights» der SATW.