Das Universum erforschen mit virtueller Realität
Sie schweben im Weltraum, direkt über der Erde. Die Internationale Raumstation ist nur eine Armlänge entfernt. Wenn Sie den Kopf drehen, sehen Sie nur den Mond, einen winzigen Kreis, weit weg in der Ferne. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dies wahrscheinlich das ist, was ein Astronaut bei einem Weltraumspaziergang sieht.
Dies ist der Beginn einer Reise in den Weltraum, in einer virtuellen Umgebung, die von Forschenden der EPFL entwickelt wurde.
Dank einer leistungsfähigen Open-Source-Software, die am Labor für Astrophysik (LASTRO) der EPFL entwickelt wurde, können Sie nun zum ersten Mal das umfassendste virtuelle Universum betreten, das auf den neuesten astrophysikalischen und kosmologischen Daten basiert. Die Software trägt den Namen VIRUP (Virtual Reality Universe Project) und eine erste Beta-Version wird heute veröffentlicht.
«Man kann bequem von zu Hause aus durch eine sehr detaillierte Karte des Universums navigieren», erklärt Jean-Paul Kneib, Direktor von LASTRO, «das ist die Möglichkeit, durch Raum und Zeit zu reisen und das Universum zu entdecken.»
Die VIRUP-Herausforderung: gleichzeitige Visualisierung von Terabytes an Daten
Astronomen und Astrophysikerinnen sammeln mit Hilfe von Teleskopen hier auf der Erde und im Weltraum Daten über Milliarden von Himmelsobjekten am Nachthimmel. Es gibt bereits Jahrzehnte an Beobachtungsdaten. Für die nahe Zukunft werden noch grössere Datenmengen erwartet.
Um die riesigen Datenmengen visuell darzustellen, werden üblicherweise bestimmte Sequenzen vor-gerendert, wie bei einem Film. Aber wie wäre es, eine visuelle Darstellung der Daten in Echtzeit zu erstellen, so als wäre man selbst dabei, eine Beobachterin an einem beliebigen Punkt in Raum und Zeit? Genau das wollte der Astrophysiker Yves Revaz von LASTRO mit Hilfe des LASTRO-Softwareingenieurs Florian Cabot mit VIRUP erreichen, und zwar durch das Rendern von Terabytes an Daten mit 90 Bildern pro Sekunde. Letzteres wird durch die Virtual-Reality-Umgebung vorgegeben, um eine völlig immersive und reibungslose Erfahrung zu ermöglichen.
«Die Visualisierung astrophysikalischer Daten ist viel zugänglicher als die Darstellung von Diagrammen und Zahlen. Sie hilft dabei, ein Gespür für komplexe Phänomene zu entwickeln», erklärt Revaz. «VIRUP ist genau die Art und Weise, wie wir alle unsere astrophysikalischen Daten für jedermann zugänglich machen, und das wird noch wichtiger werden, wenn wir grössere Teleskope wie das Square Kilometer Array bauen, die enorme Datenmengen erzeugen können.»
Astrophysikalische und kosmologische Daten und Simulationen
Im Moment kann VIRUP bereits Daten aus über 8 Datenbanken gebündelt visualisieren. Der Sloan Digital Sky Survey besteht aus über 50 Millionen Galaxien und 300 Millionen Objekten im Allgemeinen. Die Gaia-Daten der Milchstrassengalaxie bestehen aus 1,5 Milliarden Lichtquellen. Die Planck-Mission umfasst einen Satelliten, der das erste Licht des Universums nach dem Urknall, die kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung, misst. Ausserdem gibt es den Open Exoplanet Catalog, der verschiedene Quellen von Exoplanetendaten zusammenfasst. Andere Datenbanken umfassen ein Repertoire von über 3000 Satelliten, die die Erde umkreisen, sowie verschiedene Skins und Texturen zum Rendern der Objekte.
VIRUP rendert auch Datensätze mit zeitgemässen und wissenschaftlich fundierten Simulationen auf der Grundlage von Forschungsergebnissen. Sie können die Milchstrassengalaxie und ihre zukünftige Kollision mit der Andromeda-Galaxie, unserem galaktischen Nachbarn, auch bekannt als M31, beobachten. Sie können auch sehen, wie riesige Teile des kosmischen Netzes – die fadenförmigen, grossräumigen Strukturen, die sich über das gesamte Universum erstrecken – im Laufe von Milliarden von Jahren entstehen, und zwar auf der Grundlage von Simulationen aus einem Datensatz namens IllustrisTNG, der aus 30 Milliarden simulierten Teilchen besteht. Eine grosse Herausforderung besteht darin, einen reibungslosen Übergang von einer Datenbank zur nächsten zu gewährleisten.
«Wir haben in Erwägung gezogen, bestehende Grafik-Engines für die Visualisierung der Daten zu verwenden, aber schliesslich habe ich eine speziell für das Projekt entwickelt. Sie ist flexibel, wir können weitere Daten hinzufügen, sobald sie verfügbar sind, und sie ist auf die Astronomie zugeschnitten», erklärt Cabot. «Bei dieser ersten Version von VIRUP habe ich mich auf das Rendern statischer Daten konzentriert, so dass die Interaktion mit den Daten noch etwas holprig ist und das Rendern von Simulationen zum Beispiel noch nicht in Echtzeit erfolgen kann.»
Natürlich ist es nur möglich, durch die in VIRUP importierten Daten und Simulationen zu navigieren. Man kann zum Beispiel die 4500 bisher entdeckten Exoplaneten besuchen, aber ihr Aussehen ist eine künstlerische Darstellung, die aus Beobachtungen abgeleitet wurde. Sie können auch durch die 50 Millionen Galaxien navigieren, die bisher von der Sloan Digital Sky Survey vermessen wurden, aber die tatsächlichen Daten haben eine begrenzte Auflösung und dies schränkt ein, wie viele Details in ihrer virtuellen Darstellung gezeigt werden können. Dennoch gibt es immer noch eine enorme Menge an Daten, die mit Hilfe von VIRUP erforscht werden können. Einige der nächsten Schritte könnten darin bestehen, Datenbanken von Objekten in unserem Sonnensystem wie allen Asteroiden oder verschiedenen anderen Objekten in der Galaxie wie Nebeln und Pulsaren einzubeziehen.
Flexible, immersive virtuelle Umgebung
Für ein vollständig immersives 3D-360-Erlebnis benötigen Sie eine VR-Brille und einen Computer, auf dem die VIRUP-Engine läuft, sowie Speicherplatz für eine Auswahl astrophysikalischer und kosmologischer Daten.
VIRUP ist auch in der Lage, ein virtuelles Universum in anderen VR-Umgebungen aufzubauen, z. B. in einer Kuppel, was besonders nützlich für Veranstaltungsorte wie Planetarien, Höhlen und Halbhöhlen ist. Der Übergang der offenen Software von der eher persönlichen und isolierten Erfahrung einer VR-Brille zu der kollektiven, theatralischen Erfahrung, die Kuppeln und Höhlen bieten, wurde dank einer Zusammenarbeit zwischen Forschenden von LASTRO und dem Labor für experimentelle Museologie (eM+) der EPFL möglich und wurde durch EPFL Seed Funding zur Förderung interdisziplinärer Projekte finanziert.
«Es geht um die Entdeckung von Daten. Das immersive System bedeutet, dass man die Daten verkörpern kann, was einen tiefgreifenden Einfluss darauf hat, wie man die Daten tatsächlich wahrnimmt», sagt die Künstlerin Sarah Kenderdine, die das eM+ leitet.
Eine Reise durch das Universum – ein Kurzfilm
Mit der Veröffentlichung von VIRUP erscheint ein Kurzfilm mit dem Titel «Archäologie des Lichts», eine mögliche Reise durch das virtuelle Universum, die dank der Open Software möglich ist.
Der 20-minütige Film beginnt auf der Erde und zeigt eine Reise durch die verschiedenen Grössenordnungen des Universums, von unserem Sonnensystem über die Milchstrasse bis hin zum kosmischen Netz und dem Lichtrelikt des Urknalls.
Wenn Sie es kaum erwarten können, den Film zu sehen, können Sie ihn in 2D, in 360° und in Stereo 180° auf YouTube ansehen. Wenn Sie Zugang zu einer VR-Umgebung haben, können Sie in die «Archäologie des Lichts» eintauchen.
In der Kuppel wird der Film in der nächsten Ausstellung der EPFL, Cosmos Archaeology, zu sehen sein: Explorations in Space and Time, die am 21. April 2022 in den EPFL-Pavillons eröffnet wird. Eine vorläufige Version des Films wurde im September im Synra Dome des Wissenschaftsmuseums von Tokio gezeigt, dank der Unterstützung der Schweizer Botschaft in Tokio. VIRUP wird diesen Monat im Rahmen der Virtual Space Tour der EPFL in Dubai ausgestellt.