Die Meere im Extremzustand
Rekordtemperaturen im Mittelmeer.1 Riesige Hitzewelle im Nordatlantik.2 Die Temperatur der Meere auf Höchststand3 – Seit dem Frühsommer ist die Fieberkurve der Ozeane ein mediales Thema. Während das für viele Menschen in der Schweiz wahrscheinlich das erste Mal war, dass sie von Hitzewellen im Meer hörten, kamen diese Meldungen für mich wenig überraschend.
Als Klimaforschende verstehen wir sehr gut, wie die menschgemachte globale Erwärmung auch die Temperatur der Meere erhöht. Der Ozean ist der eigentliche Wärmepuffer im Klimasystem der Erde und nimmt mehr als 90 Prozent der zusätzlichen Wärmeenergie auf, die durch Treibhausgase wie CO2 entsteht. So ist es per se auch nicht erstaunlich, dass Hitzewellen im Meer häufiger und intensiver werden.4 Aber was derzeit in den Meeren passiert, trifft mich unerwartet: Die Intensität und das Ausmass der Hitzewellen ist enorm, und die Schnelligkeit der Erwärmung erfüllt mich mit Sorge.
Auf unbekanntem Terrain
In den letzten Wochen hat die globale Durchschnittstemperatur der Meeresoberfläche mit 21,1 Grad Celsius den höchsten jemals gemessenen Wert erreicht. Das ist 0,3 Grad wärmer als die bisherige Rekordtemperatur zu dieser Jahreszeit. Der Verlauf 2023 liegt seit dem Frühling rund 1 Grad über dem Mittelwert der Jahre 1982 bis 2011.
Ohne Zweifel: die aktuellen Meerestemperaturen sind absolut aussergewöhnlich. Der Ozean bewegt sich auf unbekanntem Terrain – und die Klimaforschung tut sich schwer damit, diese Bewegungen zu antizipieren.
Ein Produkt verschiedener Faktoren
Welche Faktoren die Meerestemperatur so sprunghaft auf diese neuen Höchstwerte gebracht haben, ist noch nicht umfassend geklärt. Sicher ist der aufkommende El Niño ein wichtiger Treiber. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass ein El Niño die global gemittelte Meeresoberflächentemperatur um etwa 0,1 bis 0,2 Grad Celsius erhöht. Dieser Effekt kommt im Schnitt aber eher später im Jahr, wenn der El Niño um die Jahreswende herum sein Maximum erreicht.
Des Weiteren beobachten wir zurzeit im Nordpazifik und im Nordatlantik zwei riesige Hitzewellen, die schon Anfang Jahr begannen und sich in den letzten Monaten intensivierten und ausdehnten. Diese Kombination von El Niño und extratropischen Hitzewellen treibt die globale Meerestemperatur enorm in die Höhe, insbesondere da es zurzeit kaum eine Meeresregion gibt, die deutlich kühler ist als normal.
Ein perfekter Sturm
Fragt sich: Ist diese Kombination dem Zufall geschuldet – oder gibt es Abhängigkeiten? Meiner Einschätzung nach ist es zu einem grossen Teil tatsächlich Zufall. Zwar könnte die Hitzewelle im Nordpazifik durchaus durch den El Niño verstärkt worden sein, ähnlich wie während der «Blob» genannten Monster-Hitzewelle im Nordpazifik von 2013 bis 2015. Es gibt aber keine Hinweise auf eine Verbindung des El Niño mit der Hitzewelle im Nordatlantik.
Daher argumentiere ich, dass wir es mit einem perfekten Sturm (Englisch: perfect storm) zu tun haben – einer aussergewöhnlichen Situation bei der verschiedene Faktoren zufälligerweise so zusammenkommen, dass sie sich gegenseitig verstärken. Man muss dabei aber auch festhalten: Ohne die menschgemachte Erderwärmung würde dieser perfekte Sturm nie derart hohe Temperaturen generieren.
Stabile Hochdrucklagen fördern Hitzewellen
Während der Zeitpunkt einer marinen Hitzewelle also grösstenteils zufällig ist, gibt es Bedingungen, die deren Bildung begünstigen. Dazu gehören sogenannte stabile Hochdrucklagen – grossräumige Schönwetterinseln, die sich über längere Zeit aufrechterhalten und so Hitzewellen fördern können, sowohl an Land wie auch im Meer.
Eine wichtige Rolle spielt dabei die Zirkulation der Atmosphäre und des Ozeans ausserhalb der Tropen. Zirkulation bezeichnet die grossskaligen Strömungen, wie zum Beispiel der Jetstream in der Atmosphäre oder die Tiefenwasserpumpe im Nordatlantik.
In einer idealen Welt könnten wir zukünftige Zirkulationsmuster modellieren und so günstige Bedingungen für Hitzewellen frühzeitig identifizieren. Leider lassen sich die stabilen Hochdrucklagen zugrundeliegenden Zirkulationsmuster nicht weiter als für ein paar Tage oder maximal ein paar Wochen vorhersagen. Das liegt vor allem an den kleinräumigen Turbulenzen, die dazu führen, dass zum Beispiel zwei mögliche Entwicklungen des Wetters aufgrund kleiner Unterschiede in den Anfangs- oder Randbedingungen weit auseinanderdriften. Ein Phänomen, das oft als Schmetterlingseffekt bezeichnet wird.
Wenn wir also den Einzelfall schon nicht bestimmen können, so sollten wir doch wenigstens vorhersagen können, ob solche stabilen Zirkulationsmuster mit der Klimaerwärmung öfters und länger vorkommen, sprich: ob die Bedingungen für Hitzewellen häufiger werden. Doch genau hier hapert es.
Zirkulation im Unschärfetrog
Es gibt zu dieser Frage in den Klimawissenschaften wenig Konsens, genauso wie wir nicht voraussagen können, ob El Niño in Zukunft häufiger oder seltener vorkommen wird. Wir sind uns auch nicht wirklich einig, ob sich die Nordatlantische Tiefenwasserpumpe stark abschwächen wird oder nicht. Oder ob der Jetstream in der Atmosphäre anders verlaufen wird. Das sind alles relevante Fragen, die stark bestimmen, wie sich der Klimawandel in den verschiedenen Regionen der Welt genau auswirken wird.
All diesen Fragen ist gemein, dass die Zirkulation in der Atmosphäre und im Ozean nicht nur durch grossskalige Prozesse bestimmt wird, sondern auch wesentlich modifiziert wird durch kleinräumige Prozesse. Das sind Wetterprozesse wie Konvektion, Wolkenbildung, Gewitter oder Stürme – Vorgänge, die auf Skalen von einem bis wenigen Kilometern stattfinden. In anderen Worten: Die Zirkulation ist ein Phänomen, das durch Wechselwirkungen zwischen allen räumlichen Skalen bestimmt wird.
Und genau diese Skaleninteraktionen sind in den Klimamodellen, die wir heute typischerweise einsetzen, unterbunden. Das liegt primär an der zu geringen Auflösung dieser Modelle. Mit Gitterabständen von derzeit rund hundert Kilometern sind sie zu wenig scharf, um viele elementare Vorgänge des Wetters in der Atmosphäre oder im Ozean korrekt darzustellen. Doch gerade solche kleinräumigen Wetterprozesse beeinflussen Grosswetterlagen stark (und umgekehrt) – wir müssen sie heute jedoch primär abschätzen oder mit stark vereinfachenden Methoden modellieren, was zu grossen Unsicherheiten führt.
Die Klima- und Wetterforschung ist also weiterhin gefordert, ihre Modelle weiterzuentwickeln, insbesondere was die Auflösung und die Genauigkeit betrifft, um Änderungen in der Zirkulation und damit in den Wetterlagen abbilden zu können. Daran arbeiten wir an der ETH Zürich zusammen mit MeteoSchweiz im Projekt EXCLAIM6 und auf internationaler Ebene mit EVE.7
Wir versprechen uns davon ein detaillierteres Verständnis der Zirkulation und damit letztlich mehr Konsens in den grossen Fragen der Klimaforschung. Und vor allem brauchen wir die Genauigkeit von solchen lokalen bis regionalen Abschätzungen des Klimawandels, um uns optimal anpassen zu können.