Sichtfeld von Mäusen vorhersagen durch Entschlüsseln der Gehirnsignale
Ist es möglich, allein anhand von Gehirnsignalen zu rekonstruieren, was jemand sieht? Die Antwort lautet nein, noch nicht. Aber die EPFL-Forschenden haben einen Schritt in diese Richtung gemacht, indem sie einen neuen Algorithmus für den Aufbau künstlicher neuronaler Netzmodelle einführten, die die Dynamik des Gehirns mit beeindruckender Genauigkeit erfassen.
Der neuartige, in der Mathematik verwurzelte Algorithmus für maschinelles Lernen heisst CEBRA (ausgesprochen: Zebra) und lernt die versteckte Struktur im neuronalen Code.
Welche Informationen CEBRA aus den neuronalen Rohdaten lernt, kann nach dem Training durch Dekodierung getestet werden – eine Methode, die für Gehirn-Maschine-Schnittstellen (BMI) verwendet wird – und sie haben gezeigt, dass sie aus dem Modell dekodieren können, was eine Maus sieht, während sie sich einen Film ansieht. CEBRA ist jedoch nicht auf die Neuronen der Sehrinde oder gar auf Gehirndaten beschränkt. Die Studie zeigt auch, dass es zur Vorhersage von Armbewegungen bei Primaten und zur Rekonstruktion der Positionen von Ratten verwendet werden kann, während sie frei in einer Arena herumlaufen. Die Studie wurde in Nature veröffentlicht.
«Diese Arbeit ist nur ein Schritt in Richtung der theoretisch fundierten Algorithmen, die in der Neurotechnologie benötigt werden, um leistungsstarke BMIs zu ermöglichen», sagt Mackenzie Mathis, EPFL Bertarelli Chair of Integrative Neuroscience und Verantwortliche der Studie.
Um die latente (d. h. verborgene) Struktur im visuellen System von Mäusen zu erlernen, kann CEBRA nach einer anfänglichen Trainingsphase, in der Hirnsignale und Filmmerkmale abgebildet werden, ungesehene Filmbilder direkt aus den Hirnsignalen allein vorhersagen.
Die für die Videodekodierung verwendeten Daten waren über das Allen Institute in Seattle, WA, frei zugänglich. Die Gehirnsignale werden entweder direkt durch Messung der Gehirnaktivität über Elektrodensonden, die in den visuellen Kortexbereich des Mäusegehirns eingeführt werden, oder mit Hilfe optischer Sonden gewonnen, bei denen genetisch veränderte Mäuse verwendet werden, die so manipuliert wurden, dass aktivierte Neuronen grün leuchten. Während der Trainingszeit lernt CEBRA, die Gehirnaktivität bestimmten Bildern zuzuordnen. CEBRA arbeitet mit weniger als 1 % der Neuronen im visuellen Kortex, wenn man bedenkt, dass dieser Gehirnbereich bei Mäusen aus etwa 0,5 Millionen Neuronen besteht.
«Konkret basiert CEBRA auf kontrastivem Lernen, einer Technik, die lernt, wie hochdimensionale Daten in einem niedrigeren Raum, dem so genannten latenten Raum, angeordnet oder eingebettet werden können, so dass ähnliche Datenpunkte nahe beieinander liegen und unterschiedlichere Datenpunkte weiter voneinander entfernt sind», erklärt Mathis, «diese Einbettung kann verwendet werden, um verborgene Beziehungen und Strukturen in den Daten abzuleiten. Sie ermöglicht es den Forschenden, neuronale Daten und Verhaltensbezeichnungen, einschliesslich gemessener Bewegungen, abstrakter Bezeichnungen wie ‹Belohnung›󠅒 oder sensorischer Merkmale wie Farben oder Texturen von Bildern, gemeinsam zu berücksichtigen.»
«CEBRA zeichnet sich im Vergleich zu anderen Algorithmen durch die Rekonstruktion synthetischer Daten aus, was für den Vergleich von Algorithmen entscheidend ist», sagt Steffen Schneider, der Erstautor der Studie. «Seine Stärken liegen auch in der Fähigkeit, Daten über verschiedene Modalitäten hinweg zu kombinieren, z. B. Filmmerkmale und Hirndaten, und es hilft, Nuancen einzugrenzen, z. B. Veränderungen der Daten, die davon abhängen, wie sie erhoben wurden.»
«Ziel von CEBRA ist es, Strukturen in komplexen Systemen aufzudecken. Und da das Gehirn die komplexeste Struktur in unserem Universum ist, ist es das ultimative Testfeld für CEBRA. Der Algorithmus ist nicht auf die neurowissenschaftliche Forschung beschränkt, denn er kann auf viele Datensätze angewendet werden, die zeitliche oder gemeinsame Informationen enthalten, einschliesslich Daten über das Verhalten von Tieren und die Genexpression», so Mathis. «Daher sind die potenziellen klinischen Anwendungen sehr interessant.»