Grüne und blaue Nahrungsnetze unterscheiden sich
Biodiversität geht nicht nur aus der Summe aller vorkommenden Arten hervor, sondern vielmehr aus den Interaktionen zwischen den Arten. Die grundlegendste Form der Interaktion ist die Fressbeziehung. Zeichnet man alle Fressbeziehungen zwischen den Arten eines Ökosystems auf, entsteht ein mehr oder weniger dichtes und komplexes Netzwerk, ein sogenanntes Nahrungsnetz. Dass sich Nahrungsnetze unterscheiden, wird beim Blick auf terrestrische (grüne) und aquatische (blaue) Ökosysteme deutlich – in einem Fluss leben schliesslich andere Artengemeinschaften als auf einer Wiese. «Diese Feststellung wirkt auf den ersten Blick banal», sagt Florian Altermatt, Professor für Aquatische Ökologie an der Universität Zürich und Gruppenleiter an der Eawag. «Tatsächlich aber wussten wir bisher nur wenig darüber, wie grüne und blaue Nahrungsnetze aufgebaut sind, welche Unterschiede sich in ihren Strukturen zeigen und ob sie anders auf Landnutzung und Klimaeinflüsse reagieren.» In bisherigen Studien wurden Nahrungsnetze entweder nur begrenzt auf einen bestimmten Standort oder isoliert für eine bestimmte Tier- oder Pflanzenart untersucht – eine grossflächige, viele Arten umfassende Analyse fehlte bisher.
Diese Lücke wollten Altermatt und Eawag-Postdoktorand Hsi-Cheng Ho gemeinsam mit Forschenden der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, der ETH Zürich sowie der Universitäten Bern und Zürich schliessen. Im Rahmen der Forschungsinitiative Blue-Green Biodiversity untersuchten sie erstmals für ein grosses, zusammenhängendes Gebiet – die Landesfläche der Schweiz – wie grüne und blaue Nahrungsnetze aufgebaut sind und wie sie sich als Reaktion auf klimatische und menschliche Einflüsse verändern.
Fast 1000 Nahrungsnetze untersucht
Grundlage für die umfassende Untersuchung bildeten Daten aus Biodiversitäts-Monitoring-Programmen des Bundes, des Schweizerischen Zentrums für die Kartografie der Fauna «Info Fauna» und der Eawag, die das Vorkommen verschiedener Tier- und Pflanzenarten an nahezu 1000 repräsentativ über die ganze Schweiz verteilten Standorten dokumentieren. Anhand der vorkommenden Arten wurden die möglichen Art-Interaktionen abgeleitet, und so potentielle Nahrungsnetze rekonstruiert. Bei der Hälfte dieser Standorte untersuchten die Forschenden die terrestrischen Nahrungsnetze, welche die Pflanzen, Schmetterlinge, Heuschrecken und Vögel bilden; bei der anderen Hälfte die aquatischen Nahrungsnetze von Fischen, Wasserinsekten und anderen wirbellosen Wasserlebewesen. Zunächst analysierten die Forschenden anhand bestimmter Kriterien, wie die einzelnen Nahrungsnetze aufgebaut sind. Zum Beispiel, wie viele Verbindungen sprich Fressbeziehungen es insgesamt gibt und ob diese Beziehungen gleichmässig verlaufen oder, wie Hotspots, nur in einzelnen Artengemeinschaft zu erwarten sind.
In einem nächsten Schritt wurde für jeden Standort die vorherrschende Landnutzung – unter anderem Wald und Landwirtschaft – sowie die Höhe über Meer bestimmt. «Höhe und Klimawandel beeinflussen Nahrungsnetze in ähnlicher Weise, weil beide über die Temperatur Artvorkommen beeinflussen. Die Höhe kann daher – unter Berücksichtigung einiger weiterer Faktoren – stellvertretend für das Potenzial des Klimawandels angesehen werden», erklärt Ho. In Abhängigkeit von Landnutzung und Höhe, sprich Klima, verglichen die Forschenden schliesslich alle Nahrungsnetze miteinander.
Biodiversität intelligent schützen
Der Vergleich zeigt, dass grüne und blaue Nahrungsnetze in ihren Strukturmerkmalen grundsätzlich verschieden sind und dass sie darüber hinaus unterschiedlich auf Veränderung der Landnutzung und der Höhe reagieren. «In grünen Nahrungsnetzen beobachten wir beispielsweise mit abnehmender Höhe, also mit steigender Temperatur, immer weniger Nahrungsnischen», sagt Ho. Spezialisten, die ein enges Nahrungsspektrum haben, wie zum Beispiel Raupen von Schmetterlingen, die sich nur von einer bestimmten Pflanze ernähren, dürften es also in einem wärmeren Klima schwieriger haben. «Interessant ist», so Ho weiter, «dass sich die blauen Nahrungsnetze genau umgekehrt verhalten. Die Nahrungsnischen, um bei diesem Merkmal zu bleiben, werden mehr, je tiefer der Standort. Steigende Temperaturen haben in aquatischen Nahrungsnetzen also andere Veränderungen zur Folge.» Dort könnten einige Spezialisten von steigenden Temperaturen profitieren.
Diese Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf die Massnahmen zum Schutz der Biodiversität. Der Erhalt möglichst vieler Arten – das Ziel der meisten bisherigen Bemühungen – sei allenfalls nicht der effektivste Ansatz, sagt Altermatt. «Entscheidend ist, zunächst einmal die für das Nahrungsnetz wichtigsten Arten zu schützen.» Er vergleicht es mit einem Uhrwerk: «Manche Zahnräder kann man weglassen und die Uhr funktioniert trotzdem noch. Andere hingegen sind essenziell, ohne sie läuft die Uhr nicht mehr.» Um zu wissen, welche Zahnräder sprich Arten unverzichtbar sind, muss man aber den Bauplan und die Logik des Uhrwerks beziehungsweise des Nahrungsnetzes kennen. Mit ihrer Arbeit haben Ho, Altermatt und ihre Kolleginnen und Kollegen die Basis dafür gelegt.
Forschungsinitiative Blue-Green Biodiversity
Das Forschungsprojekt «Die Architektur von Artgemeinschaften und trophischen Netzwerke in blau-grünen Ökosystemen» leistet einen Beitrag zur Forschungsinitiative Blue-Green Biodiversity – einer Eawag-WSL-Zusammenarbeit, die sich mit der Biodiversität an der Schnittstelle von aquatischen und terrestrischen Ökosystemen befasst. Die Initiative wird vom ETH-Rat finanziert.