Von Fusionsreaktoren, Brennstoffzellen und Konservendosen
150 Millionen Grad Celsius – so heiss soll das Plasma im Inneren des Versuchskernfusionsreaktors ITER werden, mit dem Forschende im südfranzösischen Cadarache die Energiegewinnung der Zukunft erproben wollen. Zum Vergleich: Die perfekt knusprige Pizza backen wir bei etwa 350 Grad Celsius, Lava fliesst je nach Gesteinsart mit einer Temperatur von über 1000 Grad Celsius und im Inneren der Sonne herrscht eine beachtliche Hitze von etwa 15 Millionen Grad Celsius. Die unvorstellbaren 150 Millionen Grad Celsius, welche ITER zu erzielen plant, sind somit einzigartig in unserem Sonnensystem. Auch wenn das heisse Plasma in diesem sogenannten Tokamak nie direkt mit den Wänden in Berührung kommen wird, kann man sich vage vorstellen, welch enormen thermomechanischen und strahlungsintensiven Belastungen diese Materialien standhalten müssen.
Bevor ein Testbetrieb mit derart infernalischen Bedingungen starten kann, müssen die Materialien daher kontrollierten Belastungen ausgesetzt und etwaige strukturelle Veränderungen in ihrem Inneren exakt überprüft werden. Und genau dafür bietet das Technologietransferzentrum ANAXAM eine Vielzahl modernster Analytikmethoden, welche an den Grossforschungsanlagen des PSI durchgeführt werden können.
Präzise Materialanalytik
ANAXAM ist ein gemeinnütziger Verein, welcher 2019 vom Paul Scherrer Institut PSI, der Fachhochschule Nordwestschweiz, dem Swiss Nanoscience Institute und dem Kanton Aargau gegründet wurde. Der Verein verfolgt das Ziel, den Zugang zu den Grossforschungsanlagen für industrielle Projekte zu erleichtern. Das Akronym ANAXAM steht hierbei für «Analytics with Neutrons And X-ray Advanced Manufacturing» – also für Analytikmethoden mittels Neutronen- und Synchrotronstrahlung – eine besondere Form von Röntgenstrahlung – für fortgeschrittene Fertigungstechnologien.
Mit Neutronenund Synchrotronstrahlen lassen sich Objekte zerstörungsfrei durchleuchten. Dies erlaubt nicht nur eine dreidimensionale Sicht ins Innere des Objekts, sondern mittels Spektroskopie auch die Identifizierung und Lokalisierung der unterschiedlichen chemischen Elemente oder die strukturelle und morphologische Charakterisierung eines Materials durch Diffraktion und Kleinwinkelstreuung. Je nach Objekt können Neutronen- und Synchrotronstrahlen nacheinander angewendet und die Ergebnisse der Durchleuchtung miteinander kombiniert werden, um beispielsweise in der Bildgebung unterschiedliche Kontraste zu erzielen.
Die schiere Dimension der Grossforschungsanlagen erlaubt Materialanalytik, die in konventionellen Industrielabors unerreichbar ist. «Die zur Erzeugung von Röntgenstrahlen genutzte Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS am PSI liefert beispielsweise eine Brillanz, welche Röntgenquellen im Labormassstab um den stattlichen Faktor von 10 Milliarden übertrifft», so Christian Grünzweig, CEO von ANAXAM. Die Analytik mittels Neutronen- und Synchrotronstrahlung ist in der Schweiz nur an den Grossforschungsanlagen SLS und Schweizer Spallations-Neutronenquelle SINQ am PSI möglich.
Um von diesen komplexen Anlagen zu profitieren, steht das sechsköpfige Kernteam von ANAXAM mit Rat und Tat zur Seite. «Wir sind ein One-Stop-Shop. Die Kunden kommen mit einem Problem zu uns, wir beraten sie, kaufen beim PSI Messzeit ein, bauen, falls nötig, eine spezifische Infrastruktur auf und führen die Messungen inklusive der Datenanalyse durch. Zum Schluss erhält der Kunde die Daten und deren Interpretation in einem Abschlussbericht», erklärt Cynthia Chang, Projektmanagerin bei ANAXAM. Die Materialwissenschaftlerin und Christian Grünzweig haben vor ihrem Engagement bei ANAXAM am PSI geforscht – Cynthia Chang in der Synchrotron- und Christian Grünzweig in der Neutronenanalytik. Expertisen, die sich in ihrer jetzigen Position perfekt ergänzen. Zusammen mit ihrem Team mit den unterschiedlichsten Werdegängen aus Forschung und Industrie unterstützen sie den Industriestandort Schweiz mittels fortschrittlichsten Analytikmethoden für die Produkte und Prozesse von morgen.
Brennstoffzellenkomponenten made in Switzerland
Brennstoffzellen gelten als wichtige Technologie für die E-Mobilität der Zukunft. In einer solchen Zelle reagieren Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser und setzen dabei Energie in Form von Strom und Wärme frei.
Das zentrale Bauteil in einer Brennstoffzelle ist die sogenannte Bipolarplatte, an ihr findet die elektrochemische Reaktion statt. Diese Platte muss mit ihrer Kanalgeometrie so gestaltet sein, dass sich Sauerstoff und Wasserstoff gleichmässig verteilen, die Reaktionswärme effizient abgeführt und das Reaktionswasser zuverlässig abtransportiert werden kann. Die Platte muss zudem passgenau produziert werden, um die Gasdichtigkeit innerhalb der Zellen zu gewährleisten.
Um diese Präzision zu erreichen, werden Bipolarplatten konventionell aus dem Werkstoff Grafit gegossen. Dieses Verfahren ist jedoch sehr aufwendig und teuer – Grafit-Bipolarplatten verursachen bis zu 40 Prozent der Produktionskosten einer Brennstoffzelle und sind zudem sehr schwer, was sich wiederum negativ auf die Leistung auswirkt.
Die Firma Feintool hat deshalb ein Verfahren entwickelt, mit dem sich Bipolarplatten in einem einzigen Produktionsschritt aus dünnsten Edelstahlblechen fertigen lassen. Nebst einer schnelleren und kostengünstigeren Produktionsweise führt die Verwendung von Edelstahl auch zu einem geringeren Gesamtgewicht und einem reduzierten Volumen im Vergleich zu herkömmlichen Grafit-Platten. Das Umformen und Ausschneiden einer solchen Platte erfordert jedoch höchste Präzision, denn das verwendete Blech ist mit 0,075 Millimeter hauchdünn – die Blechpresse muss sehr «feinfühlig» arbeiten.
Statt zeitaufwendig immer wieder das perfekte Zusammenspiel von Presse und Werkzeugen zu erproben, wandte sich die Firma Feintool an ANAXAM. «Wir konnten die gefertigten Bipolarplatten mittels hochauflösender Synchrotron-Computertomografie untersuchen und somit ihre dreidimensionale Struktur charakterisieren. Dadurch konnten wir genau aufzeigen, wo die Kanalgeometrie Abweichungen aufweist und wo der Produktionsprozess weiter optimiert werden muss», so Cynthia Chang über die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Feintool.
Bei ANAXAM sind alle willkommen
Doch nicht nur Hightech-Materialien wie Bipolarplatten finden dank ANAXAM ihren Weg ans PSI. Auch Alltagsgegenstände werden durchleuchtet und so kann es durchaus vorkommen, dass der CEO und die Projektmanagerin auch mal über den Aufbau einer Konservendose philosophieren.
Deren wichtigste Eigenschaft besteht darin, dass sie dicht ist. Das deutsche Unternehmen Henkel Adhesive Technologies setzt hierfür einen speziellen Dosendichtstoff ein, der zwischen dem Dosenrand und dem Deckel aufgetragen wird, bevor diese zwei Komponenten zusammengefaltet werden. «Für dieses Projekt verwendeten wir eine hochauflösende Neutronen-Computertomografie. Dadurch konnten wir die Verteilung des Dichtstoffes im Dosenfalz zerstörungsfrei und dreidimensional analysieren – dies hilft dem Unternehmen, potenzielle Anwendungsfehler zu verstehen, um so die Lebensdauer der Verpackung zu verlängern», erklärt Grünzweig.
«Es spielt keine Rolle, ob ein Kunde mit einem Alltagsgegenstand oder einem Hightech-Produkt zu uns kommt» erklärt der ANAXAM-Chef. «Denn: Was sich messen lässt, lässt sich auch verbessern. Deshalb kann ein weltweit agierender Konzern oder das kleinste KMU von unseren Methoden profitieren und dank modernster Materialanalytik seine Produkte oder Prozesse weiter optimieren.»
Auch die italienische Nationale Agentur für neue Technologien, Energie und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung (ENEA), welche die Wandmaterialien für den Tokamak von ITER in Cdarache mitentwickelt, konnte von dieser Expertise profitieren und dadurch mikrostrukturelle Veränderungen in ihren Werkstoffen charakterisieren, welche durch die rauen Konditionen im Plasma hervorgerufen werden. ANAXAM wandte für dieses Projekt eine Vielzahl der einzigartigen Neutronen-Analytikmethoden an. Auch die durch das Plasma erzeugte Strahlenbelastung der Wandmaterialien konnte mittels Neutronenstrahlung am PSI nachgeahmt werden. Damit leistete ANAXAM einen wichtigen Beitrag für eines der vielen Puzzleteile, die den Weg zum funktionierenden Fusionsreaktor und damit zu einer möglichen Energiequelle der Zukunft ebnen.