«Gute geistige Gesundheit steigert die Leistungsfähigkeit»
Im akademischen Bereich kann der ständige Leistungsdruck oft zu einer Quelle immensen Stresses werden. Spitzenleistungen sind nur möglich, wenn man körperlich und geistig gesund ist – denn körperliche und geistige Gesundheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Aber es ist immer noch viel einfacher, über seinen Fitnesstrainer zu sprechen, als zuzugeben, dass man zu einem Therapeuten geht. Um das Tabu um die psychische Gesundheit zu brechen und den Bedürfnissen ihrer Gemeinschaft gerecht zu werden, hat die EPFL die Task Force Mental Health & Well-Being ins Leben gerufen. Ihre Aufgabe? Das Bewusstsein zu schärfen, wirksame Unterstützung anzubieten und die Hochschule zu einem Ort zu machen, an dem man offen über psychische Gesundheit sprechen kann. Kathryn Hess Bellwald, stellvertretende Vizepräsidentin für studentische Angelegenheiten und Öffentlichkeitsarbeit, nimmt diese ehrgeizige Aufgabe in Angriff.
Wie kam es zur Gründung der Task Force Mental Health & Well-Being?
Vertreterinnen und Vertreter der Studierendenschaft haben uns mitgeteilt, dass immer mehr Menschen mit ihrer psychischen Gesundheit zu kämpfen haben, und uns gebeten, etwas dagegen zu unternehmen. Ähnlich verhielt es sich bei Doktorierenden und Postdocs. So meldete die Peer2Peer-Beratungsstelle einen Anstieg der Nachfrage nach Unterstützung.
Aber diese Probleme betreffen nicht nur Studierende. Sie betreffen auch das akademische, administrative und technische Personal. Nach einem Gespräch mit Prof. Hilal Lashuel wurde mir klar, dass wir einen ganzheitlichen, gemeinschaftsweiten Ansatz zur psychischen Gesundheit verfolgen müssen. Damit wir unsere Aufgaben erfüllen können, müssen wir alle in der richtigen Verfassung sein. Deshalb haben wir diese neue Task Force eingerichtet, um eine Strategie zur Förderung des Wohlbefindens in der gesamten Gemeinschaft zu entwickeln. Ich bin der EPFL-Direktion sehr dankbar für ihre Unterstützung, denn dies ist eine so wichtige Initiative für unsere Hochschule. Für mich persönlich ist diese neue Aufgabe eine Art Entdeckungsreise. Ich arbeite mit Fachleuten zusammen und lerne ein ganz neues Gebiet kennen – ein Gebiet, das weit von der Mathematik entfernt ist, wo meine Forschungsinteressen liegen.
Welche praktischen Schritte unternimmt die Task Force?
Die Task Force umfasst vier Arbeitsgruppen. Eine dieser Gruppen ist mit der Organisation der Woche der psychischen Gesundheit betraut, die am 21. November beginnt und in der eine Reihe von Vorträgen, Workshops, Podiumsdiskussionen und anderen Veranstaltungen auf dem gesamten Campus stattfinden werden. In derselben Woche werden wir eine Umfrage starten, die von einer zweiten Arbeitsgruppe entwickelt wurde, um ein Bild davon zu erhalten, was unsere Gemeinschaft braucht, welche spezifischen Probleme angegangen werden müssen und was gut funktioniert. Die Fragen der Umfrage wurden von unabhängiger Seite überprüft, so dass wir wissen, dass wir nützliche Erkenntnisse aus den Daten gewinnen können. Auf Grundlage der Ergebnisse werden wir evidenzbasierte Empfehlungen zu Massnahmen für verschiedene Bereiche unserer Gemeinschaft abgeben.
Eine andere Arbeitsgruppe entwickelt ein Schulungsprogramm für Ersthelfer im Bereich psychische Gesundheit, das aus einem zentralen E-Learning-Modul und einem vertiefenden Kurs besteht. In dem Kurs lernen die Teilnehmenden, wie man erkennt, wenn jemand Probleme hat, wie man über psychische Probleme spricht und wie man erkennt, welche Hilfe jemand braucht. Von den Ersthelfenden wird nicht erwartet, dass sie die Rolle von qualifizierten Fachleuten übernehmen: Ihre Aufgabe ist es, Menschen, die Probleme haben, zu helfen und sie an die richtige Stelle zu verweisen, damit sie Unterstützung erhalten.
Die vierte und letzte Arbeitsgruppe hat die Aufgabe, Aktivitäten und Veranstaltungen für die Forschenden der EPFL sowie für das Lehr-, Verwaltungs- und technische Personal zu entwickeln. Die Idee ist, die Menschen dazu zu bringen, offen über psychische Gesundheit zu sprechen und dafür zu sorgen, dass die Mitarbeitenden eine gesunde Work-Life-Balance haben.
Ich bin allen Mitgliedern der Task Force und der Arbeitsgruppen sehr dankbar für ihre harte Arbeit, um diese wichtigen Initiativen auf den Weg zu bringen.
Die akademische Welt ist ein hart umkämpftes Umfeld. Wie kann man unter solchem Druck auf seine psychische Gesundheit achten?
Studierende sollten sich nicht unter Wettbewerbsdruck gesetzt fühlen, denn ihr Erfolg hängt ganz von ihrer individuellen Leistung ab. Doch die zunehmende Arbeitsbelastung setzt alle unter Druck – nicht nur die Studierenden, sondern auch das Verwaltungs- und technische Personal.
Die Forschenden konkurrieren mit ihren Kolleginnen und Kollegen in aller Welt. Dies setzt sie unter einen enormen Druck, der schwer zu ertragen ist. Da es sich um ein systemisches Problem handelt, müssen wir uns die Frage stellen, wie wir den Menschen helfen können, diesen Stress zu bewältigen, und was wir gegebenenfalls tun können, um die Belastung zu verringern. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass akademische Mitarbeitende lieber über ihr Wohlbefinden sprechen, weil es ihnen schwer fällt, das Wort «psychische Gesundheit» zu benutzen, aber es ist etwas, über das wir offen sprechen sollten. Schliesslich steigert eine gute psychische Gesundheit die Leistungsfähigkeit.
Wie gehen Sie als EPFL-Professorin, stellvertretende Vizepräsidentin für studentische Angelegenheiten und Öffentlichkeitsarbeit sowie Mutter von vier Kindern mit Ihrem eigenen Stress und Druck um?
Ich lerne, auf meinen Geist und meinen Körper zu hören – und die Zeichen zu erkennen, dass ich abschalten muss. Es ist wichtig, dass man von Zeit zu Zeit seine kreativen Batterien auflädt. Wenn man zu viel Stress hat, bleibt im Kopf kein Platz für Kreativität.
Welche Angebote gibt es an der EPFL für Menschen, die Unterstützung brauchen?
Unsere Sozialberaterinnen und -berater auf dem Campus bieten kostenlose Beratungen für unsere Bachelor-, Masterstudierenden und Doktorierenden an. Da die Nachfrage nach dieser Dienstleistung zunimmt, wird das Team am 1. Dezember um ein neues Mitglied erweitert (finanziert von der EPFL Student Foundation).
Ausserdem stellen wir im Rahmen unserer Partnerschaft mit dem Universitätsspital Lausanne (CHUV) mehr Plätze in der psychotherapeutischen Sprechstunde zur Verfügung, in deren Rahmen die Studierenden kostenlos einen ersten Termin an der EPFL erhalten. Dank dem Ansatz der psychodynamischen Kurzintervention des CHUV benötigt mehr als die Hälfte der Personen, die diesen Dienst in Anspruch nehmen, nur vier Sitzungen.
Wir haben auch das Team der Arbeitsmedizin erweitert. Die Abteilung für Sicherheit und Anlagenbetrieb hat zwei Ärzte auf Jobsharing-Basis eingestellt. Und wir bieten weiterhin die Programme Self Care und Team Care an, die die Personalabteilung während der Pandemie eingeführt hat.
Im Bereich der Forschung verfügt die Hochschule über eine grosse Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in den Neurowissenschaften tätig sind. Neben der Universität Lausanne und der Universität Genf wird die EPFL bald eine von drei Institutionen sein, die ein Fakultätszentrum im Rahmen des Synapsy-Netzwerks für psychische Gesundheit beherbergen, das im Anschluss an das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Forschungsprogramm NCCR Synapsy eingerichtet wurde. Das Zentrum wird eine wichtige Quelle wissenschaftlicher Expertise für die Task Force sein.