Komplexe Systeme enträtseln: die Backtracking-Methode
In der Physik bezeichnet ein «ungeordnetes System» ein physikalisches System, dessen Bestandteile – z. B. seine Atome – in keiner erkennbaren Weise organisiert sind. Wie eine Schublade voller zufälliger Socken weist ein ungeordnetes System aufgrund verschiedener Faktoren wie Verunreinigungen, Defekte oder Wechselwirkungen zwischen den Komponenten kein wohldefiniertes, geordnetes Muster auf.
Diese Zufälligkeit macht es schwierig, das Verhalten des Systems genau vorherzusagen. Und da ungeordnete Systeme in allen Bereichen von der Materialwissenschaft bis hin zum Klima oder zu sozialen Netzwerken und darüber hinaus vorkommen, kann diese Einschränkung ein ernsthaftes Problem im wirklichen Leben darstellen.
Nun hat ein Team von Forschenden unter der Leitung von Lenka Zdeborová an der EPFL einen neuartigen Ansatz entwickelt, um zu verstehen, wie sich Dinge in ungeordneten Systemen verändern und entwickeln, selbst wenn sie raschen Veränderungen unterworfen sind, wie etwa einer Temperaturänderung. Die Studie wurde von Freya Behrens aus dem Labor von Zdeborová und Barbora Hudcová von der Karls-Universität in Prag und Gast an der EPFL durchgeführt.
Der Ansatz nennt sich «Backtracking Dynamical Cavity Method» (BDCM) und funktioniert, indem zuerst der Endzustand des Systems und nicht der Anfang betrachtet wird; anstatt die Trajektorie des Systems von Anfang an zu untersuchen, werden die Schritte von stabilen Punkten aus rückwärts verfolgt.
Aber warum «Hohlraum»? Der Begriff stammt von der «Cavity-Methode» in der statistischen Physik und bezieht sich auf die Isolierung einer bestimmten Komponente eines komplexen Systems, um es leichter untersuchen zu können, sie wird in ein konzeptionelles «Loch» oder einen «Hohlraum» gesteckt, während alle anderen Komponenten ignoriert werden.
In ähnlicher Weise isoliert das BDCM eine bestimmte Komponente des ungeordneten Systems, arbeitet aber stattdessen rückwärts, um seine Entwicklung im Laufe der Zeit zu verstehen. Dieser innovative Ansatz liefert wertvolle Einblicke in die dynamischen Eigenschaften des Systems, selbst wenn es weit vom Gleichgewicht entfernt ist, z. B. wie sich Materialien abkühlen, wie sich Meinungen in einem sozialen Netzwerk entwickeln oder sogar wie unser Gehirn funktioniert.
«Anhand unserer ersten Ergebnisse haben wir gesehen, dass es ziemlich irreführend sein kann, nur die Anzahl der Attraktoren eines Systems zu betrachten», sagt Freya Behrens und meint damit stabile Zustände, in die sich ein System mit der Zeit einpendelt: «Nur weil es viele Attraktoren eines bestimmten Typs gibt, bedeutet das nicht, dass die Dynamik dort endet. Aber wir haben wirklich nicht erwartet, dass wir, wenn wir nur ein paar Schritte vom Attraktor in sein Becken zurückgehen, so viele Details über die gesamte Dynamik enthüllen würden. Das war ziemlich überraschend.»
Indem sie das BDCM auf eine zufällige Anordnung von Magneten anwandten, fanden die Forschenden heraus, was mit ihrer Energie passiert, wenn sie sich schnell abkühlen, oder welche Art von Mustern sie bilden, wenn sie mit verschiedenen Anordnungen beginnen.
«Was mir an dieser Arbeit besonders gefällt, ist, dass wir theoretische Antworten auf grundlegende, aber offene Fragen zur Dynamik des Ising-Modells erhalten haben, das zu den am meisten untersuchten Modellen in der statistischen Physik gehört», sagt Lenka Zdeborová, «Die von uns entwickelte Methode ist sehr vielseitig, was darauf hindeutet, dass sie viele Anwendungen bei der Untersuchung der Dynamik komplexer wechselwirkender Systeme finden wird, für die das Ising-Modell eines der einfachsten Beispiele ist. Zu den Anwendungsbereichen, die ich mir vorstellen kann, gehören soziale Dynamik, Lernen in neuronalen Netzen oder zum Beispiel die Genregulation. Ich freue mich schon auf die Folgearbeiten!»