Die soziale Seite der Naturkatastrophen
Christine Eriksen lebte und forschte 13 Jahre lang in Australien, bevor sie im August 2020 ihre Stelle an der ETH Zürich antrat. «Mit ein Grund für meinen Umzug in die Schweiz waren die Buschbrände», erzählt sie. Während des «Black Summer» zwischen Juni 2019 und Mai 2020 brannten in Australien mehr als 18 Millionen Hektaren Fläche, die Schäden wurden auf 70 Milliarden Schweizer Franken geschätzt. Damals lebte Eriksen in Wollongong, 90 Kilometer südlich von Sydney. Während Monaten brannte das Hinterland und der Rauch zog in die tiefer gelegenen Städte an der Küste. «Ich bin in der Nacht oft erschrocken aufgewacht und habe nach Luft gerungen, weil das Zimmer voller Rauch stand», erzählt Eriksen. «Dies, obschon ich 60 Kilometer vom nächsten Brandherd entfernt lebte.» Millionen waren chronischem Rauch ausgesetzt, und Eriksen verlor die Möglichkeit, in ihrer Freizeit etwas Abstand zu gewinnen von ihrem Forschungsthema: den gesellschaftlichen Konsequenzen von Naturkatastrophen.
Riskante Stadt-Wald-Schnittstellen
Die Humangeografin interessiert sich seit ihrer Doktorarbeit für Waldbrände. In ihrer Forschung untersucht sie, welche Herausforderungen sich Menschen beim Wiederaufbau nach Waldbränden stellen, welche Rolle soziale und kulturelle Normen bezüglich der Resilienz gegenüber Katastrophen spielen und wie politische Entscheide Risiken in bestimmten Kontexten erhöhen. Eriksen betrieb während Jahren Feldforschung in feuergefährdeten Gebieten in Südostaustralien und Kalifornien, führte Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern, mit Behörden und Feuerwehrleuten und beobachtete die sozioökonomischen Veränderungen über die Zeit. Auf der Suche nach wohltuender Natur und einer besseren Work-Life-Balance waren zunehmend Menschen in die Nähe der Wälder gezogen. «Das Katastrophenrisiko bei Waldbränden ist durch wachsende Stadt-Wald-Schnittstellen stark gestiegen», sagt Eriksen. «Solche Phänomene beobachten wir an vielen Orten auf der Welt, auch in Kalifornien und im Mittelmeerraum.»
Die Häufigkeit grosser Waldbrände hat mit Hitzewellen und trockenen Sommern infolge der Klimakrise weltweit zugenommen. «Als ich Anfang der 2000er Jahre mit meiner Forschung begann, traten grosse Feuer in Australien alle fünf bis zehn Jahre auf. Heute kommen sie alle zwei bis drei Jahre vor», erzählt Eriksen. Trotzdem schaudert es die Sozialwissenschaftlerin jedes Mal, wenn sie den Begriff «Naturkatastrophe» hört. «Katastrophen sind nicht ‹natürlich›. Es sind vor allem soziale und kulturelle Prozesse, die zu erhöhten Risiken führen.» Sie nennt ein Beispiel: «Indigene in Australien und Nordamerika sahen regelmässige Waldbrände als notwendig für die Regeneration der Natur an. Erst die Siedler aus Europa versuchten, Waldbrände um jeden Preis zu vermeiden.» Die Folge: In den Wäldern lagen Kubiktonnen von gut brennbarem Material, die sich mit den zunehmenden Hitzewellen öfter entzündeten.
Naturkatastrophen werfen gleichzeitig ein Schlaglicht auf soziale Machtverhältnisse und Ungleichheiten. Eriksen hat Berichte zu den gesellschaftlichen Auswirkungen des tropischen Wirbelsturms Katrina von 2005 in New Orleans ausgewertet. Geschätzte 80 Prozent der Stadt standen damals unter Wasser, manche Gebiete bis zu vier Meter hoch. Mehr als eine Million Menschen mussten ihr Zuhause verlassen und circa 1500 starben. Vor allem Menschen aus ärmeren Haushalten blieben trotz Warnungen und selbst nach den ersten Fluten noch in der Stadt. Für sie war es viel schwieriger zu fliehen, auch weil sie weniger Zugang zu privaten oder öffentlichen Verkehrsmitteln hatten. Von den rund 30 Prozent der Haushalte, die kein eigenes Fahrzeug besassen, waren die meisten afroamerikanische Familien mit geringem Einkommen. Gleichzeitig lebten sie oft in tiefer gelegenen Gebieten, die gegenüber Wirbelstürmen besonders exponiert waren und wo das Versagen der Flutwehre die verheerendsten Folgen hatte. «Klasse, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, sexuelle Ausrichtung, körperliche Einschränkungen, Ausbildung und Religion waren wichtige Faktoren, die darüber bestimmten, wie verletzlich jemand gegenüber Katrina war», sagt Eriksen.
Simulationen helfen Entscheiden
David Bresch beschäftigt sich in seiner Forschung ebenfalls mit Naturkatastrophen. Doch anders als Eriksen reduziert er soziale Komplexität bewusst, um mit mathematischen Modellen Risikoeinschätzungen zu erstellen. An seiner Professur für Wetter- und Klimarisiken will er mathematische Möglichkeiten und die praktischen Bedürfnisse von Unternehmen, Behörden und Stadtverwaltungen zusammenbringen, damit sich diese besser auf die steigenden Wetter- und Klimarisiken vorbereiten können. Nebst dem Dialog mit Anspruchsgruppen gehört «CLIMADA» zu den wichtigsten Instrumenten seiner Forschung, eine ereignisbasierte Simulationsplattform zu sozioökonomischen Auswirkungen von Wetter- und Klimaereignissen. Entscheidungsträger können damit Handlungsoptionen abwägen und eine Kosten-Nutzen-Analyse für Massnahmen zur Risikoreduktion erstellen.
Während des Zoom-Calls teilt der Forscher seinen Bildschirm und lässt ein globales Modell laufen, das mit CLIMADA berechnet wurde. Auf einer stilisierten Weltkugel tauchen feine Striche und kleine Kreise auf, die sich von den Ozeanen in Richtung Land bewegen. Das Modell stellt sämtliche tropischen Zyklone und deren Routen zwischen 1987 und 2016 dar. Überall, wo ein Zyklon auf Land trifft, leuchtet es je nach Schäden an Gebäuden, Infrastruktur und Personen gelb, grün oder blau. Besonders hell erleuchtet: Küstenabschnitte vor Japan, den Philippinen, Südchina und Vietnam. Mittlerweile gibt es solche CLIMADA-Modelle für Zyklone, Hitzewellen und Dürren, Überschwemmungen und Waldbrände weltweit. Damit können Auswirkungen nicht nur historisch, sondern auch probabilistisch berechnet werden, also für Wetterextreme, die gar noch nicht stattgefunden haben, aber physikalisch plausibel sind. Auf vier Kilometer genau lassen sich so die Auswirkungen von Ereignissen abschätzen.
Vertrauen aufbauen
Aktuell berät Bresch mit Unterstützung der Asian Development Bank und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) die vietnamesische Stadt Hue, die an der Küste des Südchinesischen Meeres liegt und tropischen Zyklonen gegenüber stark exponiert ist. Nach unzähligen Zoom-Calls mit den Beteiligten und zweijährigem Vertrauensaufbau hat Breschs Gruppe die zukünftigen Klimarisiken simuliert, evaluiert, Szenarien entworfen und Handlungsoptionen vorgeschlagen. Unter anderem eine Wirkungswarnung, bei der die Behörden anstelle von meteorologischen Parametern – zum Beispiel hohen Windgeschwindigkeiten – mit konkreten Handlungsoptionen versorgt werden, also wann, wo und wie viele Menschen in den kommenden Tagen evakuiert werden müssten.
CLIMADA ist eine Open-Source-Software und frei nutzbar. Lokale Behörden weltweit können die Wetter-Risikomodelle für ihre Region jederzeit laufen lassen und diese an eigene Bedürfnisse anpassen. «Dafür braucht es nicht mehr als einen Laptop und etwas Grundkenntnisse in der Programmiersprache Python», sagt Bresch. Tutorials findet man auf der Website seiner Gruppe. Leider würden diese noch viel zu wenig genutzt. «Die Hürden sind nicht technisch, sondern vor allem im Kopf.» Um praktische Erfahrungen in der Klimarisikoadaption in unterschiedlichen Weltgegenden auszutauschen, hat er 2009 das Netzwerk «Economics of Climate Adaptation» (ECA) mitgegründet. Auf der Website sind Beispiele dokumentiert, wie Behörden durch die Nutzung von CLIMADA Strategien gegen Wetter- und Klimarisiken erarbeiten konnten. Zum Beispiel die Stadt New York infolge des zerstörerischen Hurrikans Sandy. Mit Blick auf über 30 Fallstudien sagt Bresch heute: «Der grösste Risikofaktor für Katastrophen ist die gesellschaftliche Entwicklung.» So erhöhe die Zunahme von Bautätigkeiten in einem bestimmten Gebiet das Risiko einer Katastrophe durch Überschwemmungen oft weit stärker als die Zunahme der Wetterextreme selbst.
Transdisziplinär gegen Hagel
Weil die sozioökonomischen Dimensionen von Katastrophen derart wichtig sind, arbeitet Bresch oft mit Experten und Expertinnen aus anderen Disziplinen zusammen. Zum Beispiel mit Computerwissenschaftlern, Klimaphysikerinnen, Agronomen, Meteorologen und Ökonominnen für die Modellierung des Hagelrisikos für die Schweiz unter veränderten Klimabedingungen. Hagel ist für rund 50 Prozent der Gebäudeschäden in der Schweiz verantwortlich und birgt auch für die Landwirtschaft hohe Risiken. Deshalb sind Anspruchsgruppen aus der Praxis von Beginn weg involviert, darunter Gebäudeversicherer, das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Agroscope. Christine Eriksen forscht ebenfalls meist transdisziplinär: «Unser Wissen zu sozioökonomischen Fragestellungen in bestimmten Risikokontexten wird umfassender, wenn wir es mit Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften kombinieren», sagt die ETH-Forscherin. «Hingegen zeigen uns mathematische Modelle allein nur Muster von Naturgefahren. Sie sagen aber nicht viel darüber aus, wie die Menschen an einem bestimmten Ort tatsächlich davon betroffen sind.»