Die Stärke der schwächsten Naturkraft
Als im Mai 2018 eine Falcon-9-Rakete von der Startrampe im kalifornischen Vandenberg abhob, war Benedikt Soja vor Ort und schaute gebannt zu. Der Forscher arbeitete damals für die NASA, die zusammen mit dem Deutschen GeoForschungsZentrum Potsdam (GFZ) zwei Satelliten ins All schickte. Heute ist Soja Professor für Weltraumgeodäsie am Departement Bau, Umwelt und Geomatik an der ETH Zürich und wertet mit seinem Team Daten dieses Satellitenpaars aus. «Mit der Mission namens GRACE Follow-On können wir das Schwerefeld der Erde besonders genau vermessen», erklärt der Forscher. «Das gibt die Erdbeschleunigung an jedem Punkt der Erde wieder.»
Die Schwerkraft sorgt dafür, dass Gegenstände stets nach unten fallen und die Erde in einem angemessenen Abstand zur Sonne bleibt, damit Leben gedeihen kann. Doch die Anziehungskraft wirkt nicht überall auf unserem Planeten gleich stark, denn die Erde ist keine perfekte Kugel. Das Erdschwerefeld variiert, je nachdem, wie viel Masse an einem bestimmten Ort vorhanden ist. Umgekehrt lassen sich durch die Messung der Schwerkraft Rückschlüsse über die Verteilung der Masse ziehen.
Den Klimawandel verfolgen
«Besonders interessant ist, wie sich Massen verlagern», sagt Soja: «Im Hinblick auf den Klimawandel ist dies beim Wasser speziell wichtig.» Mithilfe der Satellitenmessungen können die Forschenden bestimmen, wie die Eisschilder in Grönland oder der Antarktis schmelzen oder manche Grundwasservorkommen in Kalifornien oder Indien aufgrund der Trockenheit immer kleiner werden. «Auch bei starken Regenfällen sieht man eine deutliche Änderung im Schwerefeld, weil sich dort viel Wasser angesammelt hat, wo es normalerweise weniger hat», erklärt Soja: «Mit dem Klimawandel haben sich diese Masseverteilungen in den letzten Jahren signifikant verändert.»
Zwar lässt sich das Erdschwerefeld auch vom Boden aus messen, jedoch nur punktuell. «Man wird damit nie die ganze Erde mit ihren Ozeanen abdecken können», erklärt Soja. Deshalb die Messungen aus dem Weltall. Weil die Umlaufbahn jedes Satelliten durch das Schwerefeld beeinflusst wird, kann man allein durch genaue Positionsbestimmungen entlang des Orbits die Erdbeschleunigung berechnen. «Diese Methode ist aber nicht so genau, dass man daraus wissenschaftlich interessante Details erhält», sagt der Forscher. Anders mit dem Satellitenpaar GRACE Follow-On, einer Nachfolgemission der 2002 gestarteten Zwillingssatelliten GRACE, die inzwischen in der Erdatmosphäre verglüht sind.
Ein Satellit fliegt voraus, der andere folgt ihm in einem Abstand von rund 220 Kilometern. Ein Messsystem an Bord bestimmt kontinuierlich den Abstand zwischen den beiden Satelliten. Dieser verändert sich aufgrund der Massenverlagerung auf der Erde mit der Zeit. Mit einem sogenannten Laserinterferometer zur Distanzmessung lässt sich die Abstandsänderung mit einer Genauigkeit im Bereich von Nanometern pro Sekunde bestimmen.
Störungen eliminieren
Doch nicht alle Änderungen der Satellitenumlaufbahn werden vom Erdschwerefeld verursacht. Im Orbit in rund 500 Kilometern Höhe herrscht kein absolutes Vakuum, die Satelliten werden immer wieder durch Atmosphärenteilchen abgebremst. Auch der Sonnenwind kann zu kleinen Bahnänderungen führen. Deshalb wurden die Satelliten mit Beschleunigungssensoren ausgerüstet. «Mit diesen hochpräzisen Sensoren können wir alle Effekte bestimmen, die nichts mit der Schwerkraft zu tun haben», erklärt Soja. «Dadurch ist es möglich, wirklich nur das Schwerefeld an sich zu messen.»
Mit seiner Gruppe erforscht er, wie man die Daten der Beschleunigungssensoren am besten verarbeitet, um alle unerwünschten Signale zu entfernen. Dazu setzt das Team auf künstliche Intelligenz. «Mit klassischen Methoden ist es oft schwierig, in den riesigen Datenmengen Zusammenhänge zu finden», erklärt Soja. «Mit Ansätzen wie maschinellem Lernen lassen sich dagegen in den Daten Muster erkennen und so die wichtigsten Zusammenhänge effizient extrahieren.» Mit ihren Algorithmen erzielen die ETH-Forschenden bis zu 20 Prozent genauere Resultate als die NASA mit den herkömmlichen Methoden.
Die Erdbeschleunigung g gibt die Stärke des Schwerefelds der Erde an. Die universelle Gravitationskonstante G hingegen kommt im Newton’schen Gravitationsgesetz vor. «Sie ist die am schlechtesten bekannte Naturkonstante», sagt Jürg Dual, emeritierter ETH-Professor für Mechanik. Die Werte aller anderen Naturkonstanten wie beispielsweise die Lichtgeschwindigkeit konnten viel präziser gemessen werden. «Die Schwerkraft ist sehr schwach im Vergleich mit den anderen fundamentalen Naturkräften», erklärt Dual. «Deshalb sind die Experimente zur Bestimmung der Gravitationskonstante so schwierig.»
Der Trick mit der Resonanz
In der ehemaligen Militärfestung Furggels bei Bad Ragaz, abgeschirmt von Lärm und Temperaturschwankungen, bestimmen Dual und seine Forschungsgruppe die Gravitationskonstante mit einer neuen Methode. «Unser Experiment ist dynamisch statt statisch wie die bisherigen», sagt der Forscher. Die Versuchsanordnung besteht aus zwei voneinander mechanisch isolierten Vakuumkammern. In der einen Kammer rotieren zwei Stäbe mit einer vorgegebenen Frequenz und versetzen durch die Gravitationskraft einen Stab in der zweiten Kammer in Schwingung. Dabei nutzen die Forschenden das Phänomen der Resonanz, mit dem sich die Vibrationen so weit verstärken lassen, dass sie mit Laserinterferometern messbar werden. Aus den winzigen Auslenkungen lässt sich mit viel theoretischem Wissen die Gravitationskonstante berechnen.
Noch ist die Methode weniger präzis als herkömmliche Experimente, doch nach ersten Versuchen konnten die Forschenden die Genauigkeit ihrer Messungen bereits deutlich steigern. «Jetzt wird es langsam spannend», sagt Dual. «Denn mit dem dynamischen Ansatz können wir neue Fragestellungen angehen.» Gibt es vielleicht wider Erwarten eine Wechselwirkung zwischen der Schwerkraft und den anderen Naturkräften? Und stimmt es wie allgemein angenommen, dass sich die Gravitation nicht abschirmen lässt? Dies prüfen die ETH-Forschenden nun, indem sie grosse Metallplatten zwischen die beiden Vakuumkammern hängen, aber sonst alles unverändert lassen. «Würden wir einen Effekt sehen, wäre das ziemlich revolutionär», sagt Dual. Denn dann müssten eventuell einige Modelle, die das Universum und seine Entwicklung beschreiben, revidiert werden.