Einwanderung und historische Entwicklung der Stadt Zürich
«Die Rolle der internationalen Migration wird in demografischen Studien oft vernachlässigt», stellte Mathias Lerch, Leiter des Laboratory of Urban Demography an der EPFL, gleich zu Beginn des Gesprächs fest. Um das aktuelle Stadtwachstum in den Ländern des Südens zu verstehen, benötigen wir laut dem Forscher bessere Instrumente. Für eine retrospektive Studie über die Stadt Zürich, die im Januar 2022 erschien, verfeinerte Mathias Lerch deshalb seine Methode, indem er dank der online verfügbaren statistischen Jahrbücher der Stadt bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurückging. Eine Goldgrube an Informationen, die es ihm ermöglichte, in die Geschichte und den wirtschaftlichen Erfolg der noch immer grössten Schweizer Stadt einzutauchen.
Seine Forschung, die sich auf den Zeitraum von 1836 bis 1949 konzentrierte, brachte ihm einige Überraschungen. Durch die Untersuchung der Fertilitätsrate der Stadt, der Bevölkerungsbewegungen und der Nationalität der neuen Zürcher Einwohnerinnen und Einwohner stellte der Forscher fest, dass die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau in der Stadt bereits im 19. Jahrhundert niedrig war und eine natürliche Erneuerung der Bevölkerung verhinderte. Es war deshalb der Migration zu verdanken, dass die Stadt zu dieser Zeit demografisch wuchs, und nicht dem Überschuss der Geburten über die Sterbefälle - also dem natürlichen Wachstum.
Die Landflucht nach Zürich war jedoch nicht so gross wie erwartet: «Die Archive zeigen, dass die Schweizer Bauern zwischen 1850 und 1900 ihr Land eher in Richtung Neue Welt als in Richtung Schweizer Städte verliessen», sagt Lerch. «Diese Familien wollten weiterhin Landwirtschaft betreiben, und viele von ihnen aus den Kantonen um Zürich waren katholisch. Sie fühlten sich nicht von Zürich angezogen, das nicht nur protestantisch war, sondern auch ungesund erschien und schwierige Arbeitsbedingungen bot.»
Fachkräfte und Flüchtlinge
Die internationale Zuwanderung glich das natürliche Wachstumsdefizit der Städte und den Verlust potenzieller Landflüchtiger, die sich für die Neue Welt entschieden, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aus: «Wir sehen, dass Facharbeiter aus Süddeutschland kommen, die in ihrer Region durch Maschinen ersetzt worden waren, aber in der Schweiz, wo die Industrialisierung gerade begonnen hatte, sehr begehrt waren», sagt Lerch. «Wir finden auch viele französische Revolutionäre, die vor der Restauration flohen.»
Das Gesamtwachstum der Stadt blieb bis 1850 gering, stieg dann aber auf über 2 % pro Jahr an. Am Ende des Jahrhunderts erreichte es einen Höchststand von 8 %, was vor allem der internationalen Einwanderung zu verdanken war, bei der italienische Arbeitskräfte den Rückstand gegenüber deutschen Arbeitern aufholten. Der Anteil der Schweizer an der Stadtbevölkerung ging von 89 % im Jahr 1836 auf 78 % im Jahr 1888 zurück.
Der Paradeplatz in Zürich im Jahr 1946. © Macher Ludwig
Die Alphabetisierung der Bevölkerung, die ab 1874 obligatorisch wurde, die Säkularisierung der Gesellschaft und die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Städten (öffentliche Beleuchtung, Freizeit, sanitäre Einrichtungen, Hygiene) veränderten im 20. Jahrhundert auch für die Schweizerinnen und Schweizer die Situation. Hinzu kamen die in den USA geltenden Migrationsbeschränkungen. Schweizerinnen und Schweizer, die ihr Land nicht mehr bewirtschaften konnten, wandten sich daraufhin nach Zürich, was einen Höhepunkt des Zustroms in den 1920er Jahren zur Folge hatte. Die internationale Einwanderung ihrerseits versiegte mit der Entstehung der Nationalstaaten, der Einführung von Reisepässen in Europa und den beiden Weltkriegen. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte erneut einen Zustrom von Arbeiterinnen und Arbeitern aus dem Ausland, die der Stadt Zürich zu wirtschaftlichem Wachstum verhalf.
Von Zürich nach Addis Abeba
«Wenn wir wissen, wie eine Stadt wächst, können wir ihre zukünftige Entwicklung planen, einschließlich der Anzahl der Schulen und der zusätzlich benötigten Infrastruktur», sagt Lerch. Der Demograf sagt voraus, dass die Städte südlich der Sahara denselben Weg einschlagen werden wie Zürich: «In Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens, ist die Geburtenrate rasch auf zwei Kinder pro Frau gesunken. Letztendlich werden diese Städte auf Migranten angewiesen sein, um ihre Bevölkerung zu erneuern, ähnlich wie Zürich es war.»