Forschende entschlüsseln das Geheimnis der superselektiven Bindungen
Ein Grossteil der Biologie beruht auf dem biophysikalischen Prozess der Bindung: der Herstellung einer festen Verbindung zwischen einer oder mehreren Atomgruppen – den so genannten Liganden – und ihrem entsprechenden Rezeptormolekül auf einer Oberfläche. Ein Bindungsvorgang ist der erste grundlegende Prozess, der es einem Virus ermöglicht, einen Wirt zu infizieren, oder einer Chemotherapie, Krebs zu bekämpfen. Aber Bindungsinteraktionen – zumindest unser Verständnis davon – haben ein «Goldlöckchen-Problem»: Zu wenige Liganden auf einem Molekül machen es unmöglich, dass es sich stabil mit dem richtigen Ziel verbindet, während zu viele zu unerwünschten Nebenwirkungen führen können.
«Wenn die Bindung durch eine Schwellendichte von Zielrezeptoren ausgelöst wird, sprechen wir von einer ‹superselektiven› Bindung, die der Schlüssel zur Vermeidung zufälliger Wechselwirkungen ist, die die biologische Funktion stören könnten», erklärt Maartje Bastings, Leiterin des Programmable Biomaterials Laboratory (PBL) an der EPFL-Fakultät für Ingenieurwissenschaft und Technologie: «Da die Natur die Dinge in der Regel nicht übermässig kompliziert macht, wollten wir wissen, wie viele Bindungswechselwirkungen mindestens erforderlich sind, damit eine superselektive Bindung stattfinden kann. Ausserdem wollten wir wissen, ob das Muster, in dem die Ligandenmoleküle angeordnet sind, einen Unterschied in der Selektivität macht. Wie sich herausstellte, ist das der Fall!»
Schematische Darstellung verschiedener Typen von Bindungsinteraktionen © Bastings/PBL EPFL
Bastings und vier ihrer Doktorierenden haben kürzlich eine Studie im Journal of the American Chemical Society veröffentlicht, in der sie die optimale Anzahl von Liganden für eine superselektive Bindung ermittelt haben: sechs. Zu ihrer grossen Freude fanden sie aber auch heraus, dass die Anordnung dieser Liganden – beispielsweise in einer Linie, einem Kreis oder einem Dreieck – ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf die Bindungseffizienz hat. Sie nannten das Phänomen «multivalente Mustererkennung» oder MPR.
«MPR eröffnet eine ganze Reihe neuer Hypothesen darüber, wie die molekulare Kommunikation in biologischen und immunologischen Prozessen funktionieren könnte. Das SARS-CoV-2-Virus hat zum Beispiel ein Muster von Spike-Proteinen, mit denen es an Zelloberflächen bindet, und diese Muster könnten für die Selektivität wirklich entscheidend sein.»
Geometrische Muster sechswertiger Liganden im Vergleich zu zufälligen (ganz rechts) © Bastings/PBL EPFL
Von Coronaviren zu Krebs
Da ihre Doppelhelixstruktur so präzise und gut verstanden ist, ist die DNA das perfekte Modellmolekül für die Forschung der PBL. Für diese Studie entwarf das Team eine starre Scheibe, die vollständig aus DNA besteht und bei der die Position und Anzahl aller Ligandenmoleküle genau kontrolliert werden kann. Nachdem das Team eine Reihe von Liganden-Rezeptor-Architekturen entwickelt hatte, um zu untersuchen, wie Dichte, Geometrie und Nanoabstände die Super-Selektivität der Bindung beeinflussen, stellte es fest, dass die Steifigkeit ein Schlüsselfaktor ist: «Je flexibler, desto ungenauer», fasst Bastings zusammen.
«Unser Ziel war es, die Designprinzipien so minimalistisch wie möglich zu gestalten, so dass jedes Ligandenmolekül an der Bindungsinteraktion beteiligt ist. Was wir jetzt haben, ist ein wirklich guter Werkzeugkasten, um super-selektive Bindungsinteraktionen in biologischen Systemen weiter auszunutzen.»
Original Mikroskopdaten verschiedener Ligandenmuster auf DNA-Material © Bastings/PBL EPFL
Die Anwendungsmöglichkeiten eines solchen «Werkzeugkastens» sind weitreichend, aber Bastings sieht drei unmittelbar wertvolle Verwendungsmöglichkeiten: «Ob man es mag oder nicht», sagt sie, «das SARS-CoV-2-Virus ist derzeit ein erster Gedanke, wenn es um virologische Anwendungen geht. Mit den Erkenntnissen aus unserer Studie könnte man sich vorstellen, ein superselektives Partikel mit Ligandenmustern zu entwickeln, das sich mit dem Virus verbindet, um eine Infektion zu verhindern, oder eine Zelle zu blockieren, so dass das Virus sie nicht infizieren kann.»
Auch Diagnostika und Therapeutika wie die Chemotherapie könnten von der Superselektivität profitieren, die eine zuverlässigere Bindung an Krebszellen ermöglichen könnte, für die bestimmte Rezeptormoleküle bekanntermassen eine höhere Dichte aufweisen. In diesem Fall würden gesunde Zellen unerkannt bleiben, was die Nebenwirkungen drastisch reduzieren würde.
Schliesslich könnte eine solche Selektivitätstechnik wichtige Einblicke in die komplexen Interaktionen innerhalb des Immunsystems bieten: «Da wir jetzt genau mit den Mustern dessen spielen können, was an den Bindungsstellen passiert, können wir in gewisser Weise mit dem Immunsystem ‹kommunizieren›», sagt Bastings.