Wissenschaftliche Argumentation erfordert die Irrationalität der Intuition
Die Wissenschaft beruht per Definition auf Logik, Argumentation und Strenge. Aber wir alle haben von Archimedes' berühmtem Heureka-Moment gehört, als er beim Baden plötzlich verstand, was als Archimedes' Prinzip bekannt wurde. Diese Anekdote mag wahr sein oder auch nicht, aber sie veranschaulicht die katalysierende Rolle, die Intuition in der wissenschaftlichen Forschung spielen kann.
Im EPFL-Labor von Bruno Lemaitre, Professor für Immunologie und Leiter des Global Health Institute der EPFL, untersuchen die Forschenden die Gene von Drosophila-Fliegen, um deren Immunreaktionen besser zu verstehen und Einblicke in das Immunsystem von Säugetieren zu gewinnen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen bei ihrer Arbeit sehr methodisch vor, lassen aber auch Raum für Intuition: «Unsere Forschung gleicht einer polizeilichen Untersuchung», sagt Lemaitre, «wir testen verschiedene Hypothesen, und wenn sie sich als falsch erweisen, nutzen wir unsere Fantasie, um andere Ideen zu entwickeln. Dann hilft uns unsere Intuition, die verschiedenen Ideen zu sortieren und zu sehen, ob eine von ihnen die Beobachtungen erklären könnte. Schliesslich führen wir Analysen durch, um zu prüfen, ob unsere neuen Hypothesen sinnvoll sind.»
Von Intuition geprägte Forschungsentscheidungen
Letztendlich sind es die Forschenden selbst und ihre komplexe menschliche Natur, die die Wissenschaft am Leben erhalten und vorantreiben: «Die Forschung basiert – wie jede andere Tätigkeit – auf Eindrücken und Gefühlen», sagt Lemaitre, «wenn wir nur logische Aufgaben wie ein Computer ausführen würden, würden wir keine neuen Entdeckungen machen.»
Wie genau wird die Intuition in den Forschungsprozess einbezogen? Frédéric Blanc, EPFL-Professor und Teilchenphysiker, glaubt, dass sie bei vielen Entscheidungen der Forschenden eine Rolle spielt: «Wenn wir zum Beispiel einen Teilchendetektor bauen wollen, lesen wir die Literatur und stützen uns auf die Erfahrungen anderer Physikexpertinnen und -experten, um zu entscheiden, welche Art von Detektor wir bauen wollen», sagt er, «aber wir verlassen uns auf unsere Intuition, wenn es darum geht, welche Art von Modell wir zuerst testen wollen. Und wenn es an der Zeit ist, die Grösse und Geometrie des Detektors auszuwählen, wird uns unsere Intuition dabei helfen, die unvermeidlichen Kompromisse zu machen und zu entscheiden, welche Parameter Vorrang vor anderen haben.»
Blanc untersucht derzeit die Teilchenwechselwirkung im Rahmen des Large Hadron Collider beauty (LHCb)-Experiments des CERN, das Dutzende von Terabytes an Daten erzeugt: «Als Forschende müssen wir ein Gefühl dafür haben, welche Analysemethode für unsere Daten am besten geeignet ist», sagt er. Wir drücken die Daumen, dass das Team am CERN die richtige Methode gewählt hat, denn die Art von B-Meson-Zerfall, für die sie sich interessieren, kommt nur einmal von einer Milliarde Mal vor.
Auch die Intuition beeinflusst die Richtung, in die Wissenschaftlerinnen ihre Forschung lenken. Dies wurde in einer Studie des Labors für Molekulare Simulation (LSMO) der EPFL deutlich. Dieses Labor ist auf metallorganische Gerüste (MOFs) spezialisiert, poröse chemische «Schwämme» aus Metallionen und organischen Verbindungen, die bestimmte Gase absorbieren können. Die Synthese und Simulation neuer MOFs ist jedoch ein mühsamer Prozess, der Millionen von Experimenten erfordern kann, um nur ein einziges MOF herzustellen. Da die Forschenden nicht so viel Zeit haben, müssen sie im Voraus entscheiden, welche Experimente sie durchführen wollen. Um zu erforschen, wie Wissenschaftlerinnen diese Entscheidungen treffen, setzte das LSMO-Team einen Hochleistungs-Robotersynthesizer ein, um den Prozess der Entwicklung der MOF namens HKUST-1 nachzuvollziehen. Der Roboter stellte alle möglichen fehlgeschlagenen oder teilweise erfolgreichen Experimente zur Herstellung eines HKUST-1-Moleküls zusammen. Das Team fand heraus, dass es, selbst wenn der Roboter jeden Tag etwa 30 Reaktionen abarbeiten würde, immer noch fast 27 Millionen Jahre dauern würde, um alle möglichen Reaktionskombinationen durchzugehen. Dies zeigt, welchen Nutzen Forschende daraus ziehen, wenn sie ihre Intuition und die ihrer Kolleginnen und Kollegen nutzen, um ihre Forschung auszurichten.
Kollektive Intuition
Laut Lemaitre sind wissenschaftliche Entdeckungen oft das Ergebnis der Kombination der Intuition mehrerer Fachleute: «Wenn eine Gruppe von Menschen in einem Labor zusammenarbeitet, die sich alle für ein bestimmtes Thema begeistern, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass dabei etwas herauskommt», sagt er. «In diesem Fall könnte eine neue Entdeckung die Krönung der kollektiven Intelligenz der Gruppe sein», sagt Lemaitre. Sein Kollege Blanc verweist auch auf den Water-Cooler-Effekt. Das heisst, «die zwanglosen Diskussionen, bei denen sich die Leute spontan über ihre Arbeit unterhalten, ohne unbedingt zu erwarten, dass dies zu etwas führt», sagt er, «das sind die typischen Momente, in denen Durchbrüche entstehen. Es ist eine Art kollektive intuitive Entwicklung.»
Intuition lehren und fördern
Zum Glück ist Intuition nicht nur eine angeborene Gabe. An der EPFL wird sie sogar gelehrt. Donna Testerman, Forscherin und Professorin im Fachbereich Mathematik, weist ihre Studierenden darauf hin, dass es wichtig ist, ihre Intuition zu kultivieren: «Viele Studierende denken, Mathematik sei ein starres Fach, in dem man nur wiederholen muss, was andere vor ihnen entdeckt haben. Was sie nicht wissen, ist, dass in der Mathematik ständig neue Entdeckungen gemacht werden, wie in jedem anderen Bereich auch», sagt sie. «Wenn man glaubt, dass man an etwas dran ist, will man es natürlich beweisen. Und wenn man versucht, es zu beweisen, stösst man vielleicht auf ein Hindernis, was dazu führt, dass man Gegenbeispiele findet. Und am Ende des Prozesses hat man dann etwas Neues herausgefunden».
Aus dem gleichen Grund ermutigt Blanc seine Studierenden, bescheiden mit ihrer Intuition umzugehen: «Anfangs sagen die Studierenden Dinge wie ‹Ich glaube, dass es so funktioniert›󠅒, aber dann weise ich sie darauf hin, dass das, was sie sagen, nur eine Vermutung ist. Wenn sie Recht haben, grossartig. Wenn nicht, müssen sie sich fragen, warum sie sich geirrt haben.» Intuition kann also auch der Ausgangspunkt für ein umfassenderes Nachdenken über ein Problem sein. Und seine Intuition zu entwickeln bedeutet, sich Schritt für Schritt an die Lösung heranzutasten.
Blanc verfolgt gegenüber seinen Studierenden noch einen anderen Ansatz – einen ziemlich pragmatischen für einen Professor in einem abstrakten Fach wie der Teilchenphysik. Er ermutigt sie, die Konzepte, die sie studieren, zu visualisieren: «Wenn Sie zum Beispiel versuchen, sich einen Teilchendetektor und die Teilchen, die ihn durchqueren, vorzustellen – die Kurve, der sie folgen, ihre Flugbahn usw. – und Sie können sich all das vor Ihrem geistigen Auge vorstellen, wird Ihnen das helfen, die Physik hinter Ihrem Experiment zu begreifen, die Ergebnisse besser zu verstehen und vor allem Ihre Intuition zu steuern.»
In seinen Vorlesungen schweift Lemaitre oft ab und erzählt seinen Studierenden vom Leben eines Forschenden und von den Abläufen in einem Forschungslabor: «Manche Studierenden lieben das, andere bitten mich, beim Thema zu bleiben», sagt er. Er glaubt, dass dies eine weitere Möglichkeit ist, die Intuition der Studierenden zu fördern, die sich durch Erfahrung, das erworbene Wissen und die Art und Weise, wie sie die Welt um sich herum betrachten, entwickelt.
Gibt es wirklich Heureka-Momente, oder ist das nur Marketing?
Lemaitre und Blanc sind sich einig, dass es tatsächlich Momente gibt, in denen die Glühbirne aufleuchtet und man plötzlich etwas versteht, ohne wirklich zu wissen, warum: «Es ist, als hätte man eine logische Kluft übersprungen», sagt Lemaitre, «und es gibt keinen Weg zurück. Alles bekommt eine andere Bedeutung, und wenn man einmal verstanden hat, wie ein System funktioniert, fügt sich alles zusammen.»
Die Intuition ist also eindeutig ein Kernelement der wissenschaftlichen Forschung. Allerdings ist der Prozess ein wenig komplizierter, als wenn einem ein Apfel auf den Kopf fällt und man plötzlich die Schwerkraft versteht.