Die Biologie in Computersprache nachbilden
Über verschiedene Wege gelangt täglich eine Vielzahl von synthetischen Chemikalien in Bäche, Seen und teilweise sogar bis ins Trinkwasser. Das Wasserforschungsinstitut Eawag möchte herausfinden, welche Langzeitfolgen dies für die aquatische Umwelt und die menschliche Gesundheit hat. «Eines der herausforderndsten Forschungsgebiete ist dabei die Neurotoxizität, also die Auswirkung dieser Substanzen auf das Nervensystem – darüber weiss man bisher erst sehr wenig», erklärt Colette vom Berg, Gruppenleiterin an der Eawag. «Dies hängt damit zusammen, dass das Nervensystem ein äusserst komplexes Netzwerk ist, bei dem zahlreiche Faktoren miteinander interagieren», so vom Berg weiter. Dabei wäre dieses Wissen nötig, denn besonders das sich entwickelnde Gehirn von Wirbeltier-Embryonen reagiert sehr empfindlich auf äussere Einflüsse. Bestimmte Klassen von Insektiziden etwa stehen im Verdacht, sich auf das Verhalten von Fischen auszuwirken, indem sie das sich entwickelnde Nervensystem im Fischembryo nachhaltig verändern.
Big data bringt Licht ins Dunkel
Forschenden um vom Berg, Anze Zupanic (einem ehemaligen Gruppenleiter an der Eawag) sowie dem Biologen und Postdoktoranden Roman Li ist es nun gelungen, etwas Licht ins Dunkel zu bringen – und zwar mithilfe von Big Data. «Dazu haben wir die Komplexität der Biologie in Computersprache abgebildet» erklärt Roman Li. Das Ergebnis ist ein Computermodell, welches die zahlreichen molekularen Prozesse im sich entwickelnden Nervensystem abbildet und so Vorhersagen machen kann, welche Chemikalien auf welche Weise das Nervensystem schädigen könnten. Grundlage des Modells ist der Zebrafisch, ein gut untersuchter Modellorganismus aus der Biomedizin, der auch in der Toxikologie häufig verwendet wird.
Um dem Problem der Komplexität zu begegnen, versuchten die Forschenden gar nicht erst, die toxische Wirkung auf einzelne Gene oder Proteine herunterzubrechen, sondern nutzen für ihr Modell das sogenannte Transkriptom. Darunter versteht man die Gesamtheit aller Gene, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im ganzen Organismus aktiviert sind. Es handelt sich damit um eine Art Gradmesser für den Zustand des Organismus. Das heisst: Je nachdem, welche Substanzen auf den Organismus wirken, werden andere Gene aktiviert.
Diese Aktivitätsmuster haben die Forschenden dann mit möglichen neurotoxischen Auswirkungen für den Organismus verknüpft. So können sie aus dem Computermodell nun herauslesen, ob und wie eine Substanz beispielsweise zu Krampfanfällen, einem gestörten Schlafrhythmus, Mikrozephalie (verkleinertes Gehirn) oder Hydrozephalus (Wasserkopf) führen könnte. Für Domoinsäure (eine von Cyanobakterien produzierte Substanz) etwa ist bekannt, dass sie bei Fischen zu Krampfanfällen führt, wodurch die Tiere vermehrt im Kreis schwimmen. «Das Model deutet auf einen molekularen Mechanismus hin, der diesem Verhalten zugrunde liegen könnte», erklärt Li.
Nutzen für Mensch und Umwelt
«Wir können nun besser verstehen, was im Nervensystem von Zebrafisch-Embryos auf molekularer Ebene geschehen könnte, wenn es akut oder chronisch Chemikalien ausgesetzt ist», sagt vom Berg. Die Forschenden hoffen unter anderem auch, auf diese Weise Gene oder Signalwege identifizieren zu können, die sich als Marker für Neurotoxizität nutzen lassen: «Anstatt das ganze Transkriptom zu untersuchen, könnte man dann gezielt nur nach der Aktivität dieser Gene suchen, um einen Hinweis darauf zu erhalten, wie toxisch eine bestimmte Substanz auf das Nervensystem wirkt» so vom Berg.
Kostenlos online verfügbar
Darüber hinaus sehen die Forschenden ein breites Anwendungsgebiet für ihr Modell, welches interessierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kostenlos online zur Verfügung steht. Li: «Ein Einsatz ist möglich in der Grundlagenforschung, aber auch in der Medikamentenentwicklung und natürlich in der Toxikologie. Damit dient es sowohl der Gesundheit des Menschen aber auch der Gesundheit unserer natürlichen Umwelt.»