Die Zeiten der Generalisten sind vorbei. Es lebe die Spezialistin!
Ist es besser, Generalistin oder Spezialist zu sein? Gaétan de Rassenfosse, Inhaber des Lehrstuhls für Innovations- und IP-Politik an der EPFL, hat sich an die Beantwortung dieser Frage gemacht, indem er die Daten von mehr als 30 000 biomedizinischen Forschenden ausgewertet hat. Was die Auswirkungen auf die Karriere betrifft, könnte die Antwort nicht klarer sein: Spezialisierung verschafft einen bedeutenden und dauerhaften Vorteil. Dieses Ergebnis, das sich auch auf andere Disziplinen übertragen lässt, wird in einem in der Zeitschrift BMC Biology erschienenen Artikel dargelegt. Sie bestätigt, dass die Tage des Renaissance-Generalisten vorbei sind und wir nun in der Ära der Spezialistinnen und Spezialisten leben.
«Die Vorstellung, dass man wie Leonardo da Vinci ein perfekter Generalist sein sollte, gehört einer vergangenen Epoche an», sagt de Rassenfosse, ausserordentlicher Professor am College of Management of Technology (CDM) der EPFL, «heute muss man sich spezialisieren.» Einer der Hauptgründe für diesen Wandel ist, dass das gesamte menschliche Wissen, selbst mit Hilfe der modernen Technologie, zu umfangreich ist, als dass ein einzelner Mensch es in einem Leben anhäufen könnte. Heutzutage ist es sinnvoller, einen kleinen Ausschnitt eines Fachgebiets innerhalb einer bestimmten Disziplin zu beherrschen – eine Nische innerhalb einer Nische. Aber zahlt sich dieser Ansatz für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus, die sich in den engen Grenzen der akademischen Welt einen Namen machen wollen?
Ein unsichtbares College
Für ihre Studie nutzten de Rassenfosse und seine Kolleginnen und Kollegen Methoden aus den Sozialwissenschaften, um zu messen, inwieweit sich die Spezialisierung auf die Karriereaussichten der Forschenden auswirkt. Ihre Studie hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können: Ein kürzlich veröffentlichter Bericht des Schweizerischen Wissenschaftsrats (SWR) ergab, dass nur 1 % einer Kohorte von Postdoc-Forschenden an Schweizer Universitäten innerhalb von vier Jahren nach Beginn ihres Postdocs eine Professur in der Schweiz erhielt.
Die drei Autoren der Studie analysierten Daten von 30 000 Forschenden, die in den letzten 30 Jahren mindestens 100 Artikel veröffentlicht hatten. Ihre Studie konzentrierte sich auf die biomedizinische Forschung, da die Daten leicht verfügbar waren, «aber wir könnten ähnliche Ergebnisse für andere Disziplinen erwarten», sagt de Rassenfosse. Im Grossen und Ganzen untersuchten die Autoren die Anzahl der Zitate, die ihre Artikel erhielten, und massen die Veränderungen in der Popularität und Sichtbarkeit der Forschenden im Laufe ihrer Karriere.
Ihr erstes Ergebnis war, dass Spezialisierung die Sichtbarkeit erhöht: Artikel von Spezialistinnen werden 25 % häufiger zitiert als von Generalisten veröffentlichte Arbeiten. Sie fanden heraus, dass sich eine Spezialisierung zu Beginn der Karriere von Forschenden sogar noch mehr auszahlt, da die Anzahl der Zitate um 75 % steigt. Und obwohl dieser Vorteil später in der Laufbahn weniger ausgeprägt ist, hat die Spezialisierung immer noch einen positiven Effekt. Die Autoren stellten auch fest, dass die Vorteile für Forschende, die weniger Arbeiten veröffentlichen, grösser sind. «Forschende sind Teil eines so genannten ‹unsichtbaren Kollegiums› – einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die ähnlich wie ein soziales Netzwerk funktioniert», erklärt de Rassenfosse. «Wenn Sie sich spezialisieren, erhöhen Sie Ihr Profil innerhalb Ihrer Gemeinschaft.»
Spezialisierung hat ihre Schattenseiten
Spezialisierung ist nicht nur eine Sache der Wissenschaft. Die Beherrschung einer Nische wird in einer Reihe von Bereichen immer wichtiger, von Medizin, Recht und Wirtschaft bis hin zu Sport, Informatik, Schmuckherstellung usw. «Infolgedessen wird es für Fachleute immer schwieriger, miteinander zu kommunizieren», fügt de Rassenfosse hinzu, «deshalb waren interdisziplinäre und kollaborative Ansätze noch nie so wichtig – und oft auch so herausfordernd.»
Die Spezialisierung hat auch ihre Schattenseiten: Forschende, die sich auf eine zu enge Nische konzentrieren, können sich überspezialisieren, in Sackgassen laufen oder Technologien beherrschen, die später veraltet sind. Auch dieses Risiko besteht nicht nur im akademischen Bereich. Hinzu kommt, dass es vielen Nachwuchsforschenden schwer fällt, ihre ursprüngliche Spezialisierung weiterzuverfolgen: «Wenn man seine Promotion in einem Spitzenlabor abgeschlossen hat, kann es schwierig sein, ein anderes Labor zu finden, in dem man seine Forschung weiterführen kann», sagt de Rassenfosse, «und ausserdem fällt es Forschenden oft schwer, sich von ihrem Dissertationsthema zu lösen. Das kann hilfreich sein, aber es kann die Leute auch zurückhalten. Manchmal muss man akzeptieren, dass man auf das falsche Pferd gesetzt hat und den Kurs ändern.»