Mehr paralleler «Verkehr» in menschlichen als in tierischen Gehirnen
Bei der Beschreibung von Kommunikationsnetzwerken im Gehirn verwendet Alessandra Griffa, leitende Postdoktorandin an der EPFL, gerne Reisemetaphern. Gehirnsignale werden von einer Quelle zu einem Ziel gesendet und bilden einen polysynaptischen Pfad, der mehrere Hirnregionen kreuzt, «wie eine Strasse mit vielen Haltestellen auf dem Weg».
Sie erklärt, dass strukturelle Konnektivitätspfade im Gehirn bereits auf der Grundlage von Netzwerken («Strassen») aus neuronalen Fasern beobachtet wurden. Als Wissenschaftlerin im Medical Image Processing Lab (MIP:Lab) der EPFL-Fakultät für Ingenieurwissenschaften und als Forschungskoordinatorin am Leenaards Memory Centre des CHUV wollte Griffa jedoch die Muster der Informationsübertragung verfolgen, um zu sehen, wie Nachrichten gesendet und empfangen werden. In einer Studie, die kürzlich in Nature Communications veröffentlicht wurde, arbeitete sie mit dem Leiter des MIP:Lab, Dimitri Van De Ville, und dem SNF-Ambizione-Stipendiaten Enrico Amico zusammen, um «Gehirnverkehrskarten» zu erstellen, die zwischen Menschen und anderen Säugetieren verglichen werden können.
Zu diesem Zweck nutzten die Forschenden Open-Source-Daten zur Diffusion (DWI) und funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) von Menschen, Makaken und Mäusen, die gesammelt wurden, während die Probanden wach und in Ruhe waren. Anhand der DWI-Scans konnten sie die «Strassenkarten» des Gehirns rekonstruieren, und anhand der fMRI-Scans konnten sie sehen, wie verschiedene Gehirnregionen entlang jeder «Strasse» aufleuchteten, was darauf hindeutete, dass diese Bahnen neuronale Informationen weiterleiteten.
Sie analysierten die multimodalen MRT-Daten mit Hilfe der Informations- und Graphentheorie, und Griffa sagt, dass diese neuartige Kombination von Methoden zu neuen Erkenntnissen geführt habe.
«Das Neue an unserer Studie ist die Verwendung multimodaler Daten in einem einzigen Modell, das zwei Zweige der Mathematik kombiniert: die Graphentheorie, die die polysynaptischen ‹Strassenkarten›󠅒 beschreibt, und die Informationstheorie, die die Informationsübertragung (oder den ‹Verkehr›󠅒) über die Strassen darstellt. Das Grundprinzip besteht darin, dass Nachrichten, die von einer Quelle zu einem Ziel übertragen werden, an jeder Station entlang der Strasse unverändert bleiben oder weiter abgebaut werden, wie beim Telefonspiel, das wir als Kinder gespielt haben.»
Der Ansatz der Forschenden ergab, dass in den Gehirnen nicht-menschlicher Wesen Informationen über eine einzige «Strasse» gesendet wurden, während es beim Menschen mehrere parallele Pfade zwischen derselben Quelle und dem Ziel gab. Ausserdem waren diese parallelen Pfade so einzigartig wie Fingerabdrücke und konnten zur Identifizierung von Personen verwendet werden.
«Eine solche parallele Verarbeitung in menschlichen Gehirnen wurde zwar vermutet, aber noch nie auf Ganzhirnebene beobachtet», fasst Griffa zusammen.
In den Gehirnen von Mäusen und Makaken werden Informationen auf einer einzigen «Strasse» gesendet, während es bei menschlichen Gehirnen viele Parallelstrassen zwischen Quelle und Ziel gibt.© Alessandra Griffa CHUV/EPFL CC BY-SA
Mögliche Erkenntnisse für Evolution und Medizin
Griffa sagt, das Schöne am Modell sei seine Einfachheit und seine Inspiration für neue Perspektiven und Forschungswege in der Evolution und den Computer-Neurowissenschaften. Die Ergebnisse könnten zum Beispiel mit der Vergrösserung des menschlichen Gehirns im Laufe der Zeit in Verbindung gebracht werden, die zu komplexeren Konnektivitätsmustern geführt hat.
«Wir könnten die Hypothese aufstellen, dass diese parallelen Informationsströme multiple Repräsentationen der Realität und die Fähigkeit zur Ausführung abstrakter, für den Menschen spezifischer Funktionen ermöglichen.»
Sie fügt hinzu, dass diese Hypothese zwar nur spekulativ sei, da in der Nature Communications-Studie die Rechen- oder kognitiven Fähigkeiten der Probanden nicht getestet wurden, dass dies aber Fragen seien, denen sie in Zukunft gerne nachgehen würde.
«Ein interessanter nächster Schritt wäre es, komplexere Prozesse zu modellieren und zu untersuchen, wie Informationen im Gehirn kombiniert und verarbeitet werden, um etwas Neues zu schaffen.»
Als Gedächtnis- und Kognitionsforscherin ist sie besonders daran interessiert, das in der Studie entwickelte Modell zu nutzen, um zu untersuchen, ob die parallele Informationsübertragung Hirnnetzwerken Widerstandsfähigkeit verleihen und möglicherweise eine Rolle bei der Neurorehabilitation nach Hirnverletzungen oder bei der Vorbeugung des kognitiven Abbaus bei Krankheiten im fortgeschrittenen Alter spielen könnte.
«Einige Menschen altern gesund, während bei anderen die kognitiven Fähigkeiten nachlassen. Wir möchten herausfinden, ob es einen Zusammenhang zwischen diesem Unterschied und dem Vorhandensein paralleler Informationsströme gibt und ob diese trainiert werden können, um neurodegenerative Prozesse zu kompensieren.»