Herkules und Akkus durchleuchtet
Zwei Forschende bereiten mit letzten Handgriffen ein Messinstrument für den Transport vor. Die Apparatur, die eine Forschungsgruppe am PSI in den vergangenen zehn Monaten entwickelt und zusammengebaut hat, ist zur Absicherung von einem etwa zweieinhalb Meter hohen Gestänge umrahmt. «Wir werden damit zerstörungsfrei bestimmen können, aus welchen chemischen Elementen eine Probe besteht», erklärt Lars Gerchow, verantwortlich für das Design des Instruments. Dazu benötigen sie spezielle Elementarteilchen, sogenannte Myonen.
Gerchow, seine Kollegin Sayani Biswas und weitere Helfende befinden sich in der grossen Halle, in der die Myonen-Quelle des PSI untergebracht ist. Myonen sind Elementarteilchen, die als Teil der kosmischen Strahlung allgegenwärtig natürlich vorkommen. «Im Schnitt durchquert jede Sekunde ein Myon unseren Kopf», erklärt der Physiker. Am PSI werden diese Teilchen jedoch künstlich erzeugt mithilfe eines grossen Beschleunigers.
Das Messinstrument ist bereit für den Weg zum vorgesehenen Platz – eine heikle Aufgabe, für die ein Hallenkran benötigt wird. Der Kranführer bekommt vom Boden aus Anweisungen via Funk, dann fliegt das Instrument in die Höhe.
Gold und Silber aus der Römerstadt
Im Kontrollraum, von dem aus die Physikerinnen und Physiker das Myonen-Experiment steuern werden, trifft derweil die Archäologin Isabel Megatli letzte Vorbereitungen für ihren Einsatz. Sie hat kostbare Gold- und Silberobjekte mitgebracht, die in Augusta Raurica ausgegraben wurden, einer der bedeutendsten römischen Fundstätten der Schweiz, rund zehn Kilometer östlich von Basel. Besonders hübsch sind zwei Figürchen aus dem 2. Jahrhundert nach Christus, Darstellungen römischer Gottheiten aus einem Hausheiligtum. Der nur gut sechs Zentimeter hohe Herkules, mit Löwenfell über dem Arm, wird von einem mythologischen Eber begleitet, den die Forschenden unter sich «das Schweinchen» nennen. Minerva trägt ein faltenreiches Gewand und einen extravaganten Helm.
Die Statuetten wurden aus Silber gegossen und teilweise vergoldet. «Wir möchten wissen, welche Silberlegierung verwendet wurde», sagt Megatli. «Mit bisherigen Methoden können wir nur die äussersten Hundertstelmillimeter untersuchen, oft wurde diese Oberfläche aber über die Jahrhunderte hinweg verfälscht.» Mit Myonen dagegen kann man mehrere Millimeter in die Tiefe blicken.
Auch einige antike Schmuckstücke, die als Grabbeigaben gefunden wurden, hat Megatli mitgebracht. «Die Giesser der Antike hatten jeweils eigene strenge Rezepte», erklärt die Archäologin. «Wenn zwei Objekte dieselbe Legierung haben, wurden sie also wahrscheinlich in der gleichen Werkstatt hergestellt. » Mit weiteren Untersuchungen können die Forschenden teilweise sogar bestimmen, aus welcher Mine die verwendeten Metallerze stammen. «Und auch Fälschern können wir auf die Schliche kommen», sagt Megatli. «Denn beispielsweise Aluminium wird erst seit dem 19. Jahrhundert verarbeitet.»
Fingerabdruck der Elemente
Die Physikerin Sayani Biswas erklärt, wie das Experiment funktionieren wird: «Wir haben eine Probe, darauf schicken wir negativ geladene Myonen.» Ein Atom in der Probe fängt ein Myon ein. Anstelle eines Elektrons umkreist nun ein Myon den Atomkern. Es befindet sich anfänglich in einem angeregten Zustand und fällt dann stufenweise in seinen Grundzustand. Dabei wird Röntgenstrahlung ausgesendet. Die Energie dieser Strahlung ist charakteristisch für den Atomtyp, also das Element, welches das Myon eingefangen hat. Biswas, die für die Datenverarbeitung und Datenanalyse verantwortlich ist, zeigt auf eine früher aufgenommene Kurve mit spitzen Ausschlägen, ein sogenanntes Spektrum. Jedes Element hat ein spezifisches Muster solcher Linien im Spektrum – wie ein Fingerabdruck.
In der Halle ist das Messinstrument nun unter grösster Vorsicht heil an seinem Zielort angekommen. Nun befestigen mehrere Fachleute die sechs grossen Röntgendetektoren am Gestänge.
Auch Alex Amato hilft mit, Leiter ad interim des Bereichs Forschung mit Neutronen und Myonen am PSI. Er hat das Projekt initiiert, an dem sich neben dem PSI die Römerstadt Augusta Raurica, die Empa und das Naturhistorische Museum Bern beteiligen und das vom Schweizerischen Nationalfonds im Rahmen des Sinergia-Programms mit knapp eineinhalb Millionen Franken unterstützt wird. «Am PSI versuchte man schon vor dreissig Jahren, mit Myonen die elementare Zusammensetzung von Material bis tief in dessen Inneres zu bestimmen, doch damals war der Teilchenstrahl nicht intensiv genug», erklärt der Forschungsleiter. «Heute sind wir zwanzigmal besser. Und wir haben tausendmal mehr Intensität als die Kollegen in England und Japan bei ihren ähnlichen Experimenten.»
Im Sinergia-Beschrieb steht denn auch: «Dieses Projekt zielt darauf ab, die Schweiz zu einem weltweit führenden Standort in der zerstörungsfreien Elementanalyse zu machen.» Und man erwarte eine grosse Nachfrage von Industrie, Kultur und akademischen Bereichen.
Doch noch stehen die Forschenden am Anfang – versammelt im Kontrollraum vor einer Reihe von Computer-Bildschirmen. Im Experimentierbereich sind jetzt keine Menschen mehr. Hier warten nur die Statuetten von Herkules und Minerva auf ihren jeweiligen Einsatz. In eigens zurechtgeschnittenen Schaumstoffhalterungen stehen sie in Metallrahmen, die wiederum auf einer Schiene vor den Detektoren in Position gebracht wurden. Lars Gerchow gibt im Kontrollraum das Kommando: «Wir können den Strahl starten.» Damit beginnen die Messungen, die nun rund um die Uhr fortgesetzt werden.
Batterien im Myonen-Strahl
Zwei Tage später platzieren die Forschenden ein völlig anderes Objekt in den Myonen-Strahl: Eine Lithium-Ionen-Batterie. «Wir wollen herausfinden, wie die Batterie durch ihren Einsatz altert», erklärt Ryo Asakura, Forscher an der Empa in Dübendorf. Er hat deshalb eine neue sowie eine bereits gebrauchte Batterie ans PSI mitgebracht – flache Päckchen, die ähnlich aussehen wie die Akkus in Smartphones. «Die Kathode dieser Batterien enthält Nickel, Mangan und Kobalt», erklärt Asakura. Mit der Zeit lösen sich diese Metalle von der Kathode ab – was zur Alterung dieses Batterie-Typs beiträgt. Die Messungen mit den Myonen sollen diesen Vorgang sichtbar machen. Später möchten die Forschenden das Lithium in der Batterie verfolgen. Die Ergebnisse sollen helfen, die Energiedichte und die Sicherheit von Lithium-Ionen-Batterien zu verbessern.
Nach einer Woche sind die Messungen sowohl der antiken Objekte als auch der Batterien beendet. «Bei der Batterie sehen wir im Spektrum schöne Linien für Nickel, Mangan und Kobalt», sagt Sayani Biswas zufrieden. In den kommenden Wochen wird Ryo Asakura die Batterien an der Empa immer wieder laden und entladen, um in einer zweiten Messperiode die Veränderungen nach diesem Alterungsprozess zu beobachten.
Die Ausschläge zeigen zwei Silberisotope
In den Messdaten der Proben aus Augusta Raurica zeigt Sayani Biswas auf einige sich überlappende Ausschläge: «Hier kann man zwei verschiedene Silberisotope sehen», also minimal verschiedenartige Atomarten von Silber. Das Verhältnis dieser Isotope kann der Archäologin Isabel Megatli helfen, die Herkunft des Silbers zu bestimmen. Sie ist bereits von den vorläufigen Ergebnissen begeistert: «Wir konnten zeigen, dass Minerva und Herkules aus einer hochwertigen Silberlegierung bestehen.»
Die nächste Messperiode ist in zwei Monaten geplant. Dann soll neben weiteren antiken Stücken und den Lithium-Ionen-Batterien auch eine Pfeilspitze aus der Bronzezeit untersucht werden, die womöglich aus Meteoritenmaterial hergestellt wurde. «Auch bei dieser Frage ist unsere zerstörungsfreie Methode hervorragend geeignet», sagt Lars Gerchow.