3D-Visualisierung erweckt die Kernfusion zum Leben
Wenn es um vielversprechende Energieformen geht, erfüllt die Kernfusion alle Kriterien: Sie ist sauber, reichlich vorhanden, kontinuierlich und sicher. Sie entsteht, wenn die leichten Kerne zweier Atome zu einem schwereren Kern verschmelzen und dabei grosse Mengen an Energie freisetzen. Damit die Fusionsreaktionen kontrolliert ablaufen können, braucht man riesige Reaktoren in Form gigantischer Ringe, die mit Magneten gefüllt sind, um Magnetfelder zu erzeugen, in denen die Atomteilchen herumschwirren und tanzen wie ein Bienenschwarm. Schwer vorstellbar? Die gute Nachricht ist, dass Sie jetzt eine Live-Simulation dieser Art von Reaktor – Tokamak genannt – dank einer verblüffend realistischen 3D-Visualisierungstechnologie betrachten können.
Das Labor für experimentelle Museologie (EM+) der EPFL ist auf diese Technologie spezialisiert und hat ein Programm entwickelt, das die Terabytes an Daten, die bei den Tokamak-Simulationen und -Tests des Swiss Plasma Center (SPC) der EPFL anfallen, in eine beeindruckende 3D-Visualisierung verwandelt. Für die breite Öffentlichkeit ist die Visualisierung eine Reise in ein Feuerwerk, das eine mögliche Energiequelle der Zukunft veranschaulicht; für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist sie ein wertvolles Instrument, das die komplexen Phänomene der Quantenphysik greifbar macht und ihnen hilft, die Ergebnisse ihrer Berechnungen zu verstehen.
Bilder, die so präzise sind, dass sie Abnutzungserscheinungen zeigen
Die 3D-Visualisierung – ein Panorama mit einer Höhe von 4 Metern und einem Durchmesser von 10 Metern – ist eine detailgetreue Nachbildung des Innenraums des Tokamaks mit variabler Konfiguration (TCV) der EPFL, die selbst mit den besten Spielen mithalten kann. Der Versuchsreaktor wurde vor über 30 Jahren gebaut und ist immer noch der einzige seiner Art auf der Welt. «Wir haben einen Roboter eingesetzt, um ultrapräzise Scans des Reaktorinneren zu erstellen, die wir dann zu einem 3D-Modell zusammengesetzt haben, das die Komponenten des Reaktors bis hin zu ihrer Beschaffenheit nachbildet», erklärt Samy Mannane, Informatiker bei EM+. «Wir waren sogar in der Lage, die Abnutzung der Graphitplatten an den Reaktorwänden zu erfassen, die während der Testläufe des TCV extrem hohen Temperaturen ausgesetzt sind.»
© 2024 EPFL / Laboratory for Experimental Museology (EM+) - CC-BY-SA 4.0
Die SPC-Ingenieurinnen und -Ingenieure stellten Gleichungen zur Verfügung, mit denen genau berechnet werden konnte, wie sich die Quantenteilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt bewegen. Die EM+-Forschenden haben diese Gleichungen dann zusammen mit den Reaktordaten in ihr 3D-Visualisierungssystem integriert. Der Haken an der Sache ist, dass alle Berechnungen in Echtzeit durchgeführt werden müssen: «Um nur ein einziges Bild zu erzeugen, muss das System die Bahnen von Tausenden von sich bewegenden Teilchen mit einer Geschwindigkeit von 60 Mal pro Sekunde für jedes Auge berechnen», sagt Mannane. Diese gewaltige Rechenarbeit wird von fünf Computern mit je 2 GPUs ausgeführt, die EM+ für dieses Projekt angeschafft hat. Die Ergebnisse der Computer werden in die fünf 4K-Projektoren des Panoramas eingespeist. «Wir konnten unser System dank der Fortschritte in der Infografik-Technologie aufbauen», sagt Sarah Kenderdine, die Professorin, die EM+ leitet. «Das wäre noch vor fünf Jahren unmöglich gewesen.»
Das Ergebnis sind realistische Bilder von verblüffender Qualität. Man kann die Injektionsvorrichtung sehen, mit der die Partikel in den Tokamak eingebracht werden, sowie die Graphitplatten, die Temperaturen von über 100 Millionen Grad Celsius standhalten können. Die Dimensionen des Ganzen sind beeindruckend. Um der Betrachterin eine Vorstellung zu vermitteln, enthält die Visualisierung ein Bild eines Menschen – der Reaktor ist etwa doppelt so gross wie dieser. Wenn die Simulation hochgefahren wird, fühlt sich der Betrachter ganz klein, während Tausende von Teilchen vorbeirauschen, sich drehen, herumwirbeln und sich gegenseitig jagen. Elektronen sind rot, Protonen sind grün und blaue Linien zeigen das Magnetfeld an. Die Benutzenden können jeden der Parameter einstellen, um einen bestimmten Teil des Reaktors in einem bestimmten Winkel zu betrachten, wobei die Darstellung nahezu perfekt ist.
SPC-Direktor Paolo Ricci erklärt: «In der Astrophysik sind die Visualisierungstechniken schon recht weit fortgeschritten, was vor allem auf die Planetarien zurückzuführen ist. Aber in der Kernfusion fangen wir gerade erst an, diese Technologie zu nutzen – vor allem dank der Arbeit, die wir mit EM+ leisten». Die EPFL, die sich auf die Exzellenz des SPC in diesem Bereich stützt, nimmt am Projekt des Internationalen Thermonuklearen Versuchsreaktors (ITER) teil und ist ein wichtiges Mitglied des EUROfusion-Konsortiums. Die EPFL wurde ausgewählt, um eines der fünf Advanced Computing Hubs des Konsortiums zu beherbergen, das den an diesem von der EU finanzierten Projekt beteiligten Forschenden ein fortschrittliches Instrument zur Visualisierung ihrer Arbeit bietet.
© 2024 EPFL / Laboratory for Experimental Museology (EM+) - CC-BY-SA 4.0
Kombination von Leistung und Kunst
Laut Kenderdine bestand die grösste Herausforderung darin, «greifbare Informationen aus einer so riesigen Datenbank zu extrahieren und eine Visualisierung zu erstellen, die genau, kohärent und ‹real› ist – auch wenn sie virtuell ist. Das Ergebnis ist aussergewöhnlich, ich würde sogar sagen, wunderschön, und es gibt den Wissenschaftlerinnen ein nützliches Werkzeug an die Hand, das eine Reihe von Möglichkeiten eröffnet».
«Die Physik hinter dem Visualisierungsprozess ist äusserst kompliziert», sagt Ricci, «Tokamaks haben viele verschiedene bewegliche Teile: Teilchen mit heterogenem Verhalten, Magnetfelder, Wellen zur Erwärmung des Plasmas, von aussen eingebrachte Teilchen, Gase und vieles mehr. Selbst für Physikerinnen und Physiker ist es schwer, das alles zu sortieren. Die von EM+ entwickelte Visualisierung kombiniert die Standardausgabe von Simulationsprogrammen – im Grunde genommen Zahlentabellen – mit Echtzeit-Visualisierungstechniken, die das Labor einsetzt, um eine videospieleähnliche Atmosphäre zu schaffen.»
Paolo Ricci, der neue Direktor des SPC
Paolo Ricci hat am 1. Juni 2024 die Nachfolge von Ambrogio Fasoli als Direktor des Swiss Plasma Center (SPC) der EPFL angetreten. Ricci, Physikprofessor an der EPFL, hat mehrere Auszeichnungen für hervorragende Lehrtätigkeit erhalten und ist Inhaber des SPC-Lehrstuhls für Theorie. Mit seiner 18-jährigen Erfahrung an der EPFL leitet er heute eines der renommiertesten europäischen Forschungszentren für Plasmaphysik.
Neben dem SPC und EM+ sind drei weitere EPFL-Gruppen am Advanced Computing Hub beteiligt: das Swiss Data Science Center, das Institut für Mathematik und die Scientific IT & Application Support Unit (SCITAS).