Das Wallis: ein ideales Labor, um den Klimawandel zu untersuchen
Um der globalen Erwärmung zu begegnen, müssen Politik, Industrie und Wissenschaft neue, innovative Wege der Zusammenarbeit entwickeln, sagt Jérôme Chappellaz, Leiter des Margaretha-Kamprad-Lehrstuhls für Umweltwissenschaften von Ferring Pharmaceuticals an der EPFL. Der akademische Direktor des Zentrums für alpine und polare Umweltforschung (ALPOLE) der EPFL in Sitten betrachtet den Kanton Wallis als ideales Laboratorium, um die Auswirkungen der schrumpfenden Alpengletscher zu untersuchen und Lösungen zu finden. Wir sprachen mit Chappellaz über seine Sorgen und Hoffnungen für die Zukunft, sowohl in der Schweiz als auch weltweit.
Jérôme Chappellaz © Jean-Yves Vitoux, Institut polaire français IPEV
Jérome Chappellaz, wird es im Jahr 2100 noch Eis in der Schweiz geben?
Das hängt davon ab, wie viel Treibhausgase wir in die Atmosphäre emittieren. Wenn wir unsere Emissionen stabilisieren und die Erwärmung auf das an der Klimakonferenz COP21 festgelegte Ziel von 1,5 Grad begrenzen, wird nur die Hälfte unserer Gletscher verschwinden. Wenn wir weiterhin 40 Milliarden Tonnen CO₂ pro Jahr ausstossen, werden viele Gebirgszüge, darunter die Alpen, eisfrei sein. Die Zeit von heute bis 2100 ist ein winziger Ausschnitt der Geschichte. Was wir heute in die Atmosphäre emittieren, wird noch lange Zeit bestehen bleiben. Das Klimasystem ist relativ träge – die Gletscher in Grönland und der Antarktis haben sich noch nicht an unsere heutige Atmosphäre angepasst. Diese Systeme sind langsam und können Jahrzehnte, Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende brauchen, um zu reagieren.
Was wären die konkreten Auswirkungen einer schnee- und eisfreien Schweiz?
Es gibt natürlich vor allem anekdotische Auswirkungen: Wir sind an schnee- und eisbedeckte Alpenlandschaften gewöhnt. Es ist schwer, sich unsere Täler ohne dominante Gletscher vorzustellen. Und dann sind da noch die praktischen Folgen: Unsere Gletscherwasservorräte werden nicht mehr zur Verfügung stehen, um menschliche Aktivitäten wie die Landwirtschaft im Frühjahr und Sommer zu versorgen.
Könnten wir nicht einfach mehr Dämme bauen?
Das könnten wir, aber wir haben vielleicht schon eine Grenze erreicht, was die geeigneten Täler angeht. Denken Sie daran: Der Klimawandel wirkt sich nicht nur auf die Kryosphäre aus, er verändert auch die Niederschlagsmuster. In der Westschweiz werden wir wahrscheinlich einen Rückgang der Sommerniederschläge, mehr extreme Niederschlagsereignisse und längere, intensivere Dürreperioden erleben.
Würden Sie sagen, dass es dann zu spät ist, um umzusteuern?
2023 könnte das erste Jahr sein, in dem die globale Durchschnittstemperatur 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau liegt. Zugegeben, das wäre nur ein einzelnes Jahr, kein Mehrjahresdurchschnitt. Aber wir sprechen hier von einem Ziel, das für 2100 festgelegt wurde! Unsere Treibhausgasemissionen gehen nicht genug zurück. Selbst während COVID-19 gingen die weltweiten CO₂-Emissionen um weniger als 5 % zurück – und das trotz starker Konjunkturabschwächungen und Reisebeschränkungen. Das sollte die Dinge ins rechte Licht rücken.
Das macht es schwierig, optimistische Aussichten zu haben.
Wenn die Erde die Titanic wäre und die Bürgerinnen und Bürger unseres Planeten die Passagiere, dann wären wir Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Späher, die den herannahenden Eisberg bemerken. Solange die Kapitäninnen – unsere Regierungen und die wohlhabenden Wirtschaftsakteure – weiterhin darüber diskutieren, wer die oder der Mächtigste ist und welche Musik im Ballsaal gespielt werden soll, gibt es keinen Grund, warum wir nicht auf den Eisberg auflaufen sollten.
Woher wissen wir mit Sicherheit, dass der Mensch für die beobachtete Erwärmung verantwortlich ist?
Die wissenschaftlichen Grundlagen des Treibhauseffekts sind gut bekannt. Joseph Fourier, der berühmte französische Mathematiker, war der erste, der 1824 dessen Existenz vorhersagte. Im Jahr 1861 mass der Ire John Tyndall die Absorption von Infrarotenergie durch Wasserdampf und CO₂. Im Jahr 1896 berechnete der Schwede Svante Arrhenius die Veränderung der Oberflächentemperatur bei einer Verdoppelung der CO₂-Konzentration in der Atmosphäre und sagte einen Temperaturanstieg von 3 Grad voraus.
Dieser Zusammenhang gilt auch heute noch.
Ja, aber das bedeutet nicht, dass wir alles wissen. Wie wird die überschüssige Wärme, die auf der Erde verbleibt, umgewandelt, und mit welcher Geschwindigkeit? Die Gletscher in der Antarktis und in Grönland verlieren an Masse, aber wir wissen immer noch nicht genau, wie viel und wann der Kipppunkt erreicht sein könnte. Wenn die schwimmenden Gletscherzungen abreissen, könnte es zu einem starken Anstieg des Meeresspiegels kommen. Das Abschmelzen der antarktischen Gletscher bei Pine Island und dem Twaites-Gletscher könnte den Meeresspiegel um 15 Meter ansteigen lassen.
Was sagen Sie denjenigen, die behaupten, dass sich das Klima schon immer verändert hat?
Das geht an der Sache vorbei. Die Frage sollte lauten: Mit welcher Geschwindigkeit und in welchem Ausmass findet die Erwärmung statt? Und welche Möglichkeiten hat die Menschheit, sich anzupassen? In diesem Jahrhundert könnte sich die Temperatur um bis zu 5°C verändern. Die letzte vergleichbare natürliche Erwärmung begann vor 20 000 Jahren und dauerte 10 000 Jahre. Damals lebten wir in kleinen mobilen Stämmen, die in bessere Umgebungen umziehen konnten. Wohin können wir heute gehen?
Bei Ihren Expeditionen haben Sie grosse Veränderungen an den Polen beobachtet. Können Sie uns Beispiele nennen?
In der Antarktis war die grösste Veränderung die Hitze. In der französischen Antarktisstation auf -67 Grad südlicher Breite hat es 2014, 2017 und letztes Jahr geregnet. Wenn es auf Baby-Pinguine regnet, deren Fell nicht wasserdicht ist, erfrieren sie. Und auf der deutsch-französischen Polarstation in Svalbard überquerten die Forschenden im Winter den Fjord mit einem Skidoo. Heute ist das nicht mehr möglich, weil der Fjord nicht mehr zufriert. Wir haben festgestellt, dass Fischarten aus dem Nordatlantik mit denen aus der Arktis konkurrieren. Dies wirkt sich auch auf die einheimischen menschlichen Populationen aus.
Welche Arten von Lösungen gibt es?
Reduzieren Sie die Treibhausgasemissionen! Geo-Engineering zum Beispiel könnte auch Lösungen hervorbringen, indem der CO₂-Gehalt in der Atmosphäre direkt reduziert wird. An der EPFL arbeiten die Forschenden derzeit an Lösungen im Labormassstab. Aber selbst wenn ein wissenschaftlicher Durchbruch erzielt wird, kann es Jahrzehnte dauern, bis die Lösungen für den Einsatz in der Praxis bereit sind. Bis jetzt haben wir noch kein Wundermittel gefunden.
Die Beweise sind überwältigend, und dennoch zeigen Umfragen, dass die Klimaskepsis zunimmt. Und warum?
Meiner Meinung nach liegt das an unserem natürlichen Reflex der Leugnung. Wenn wir uns machtlos fühlen, reden wir uns ein, dass das Problem nicht so schlimm ist, wie es klingt. Das ist ein Überlebensinstinkt. Es wäre interessant, wenn Sozialwissenschaftlerinnen die letzten vier Jahrzehnte seit der Veröffentlichung des ersten IPCC-Berichts im Jahr 1990 analysieren würden. In diesem ersten Bericht wurde festgestellt, dass der Mensch mit hoher Wahrscheinlichkeit die globale Erwärmung verursacht. Heute ist es eine Gewissheit. Dennoch argumentieren einige, darunter Industriekonzerne mit grossem wirtschaftlichen Einfluss, weiterhin, dass die Wissenschaft noch nicht abgeschlossen sei. Dies lässt Zweifel an den wissenschaftlichen Erkenntnissen aufkommen.
Wie könnte man mit dieser Situation vernünftig umgehen?
Die meisten Menschen verstehen die Situation, fühlen sich aber machtlos. Sicher, sie könnten sich in eine Höhle zurückziehen und als Einsiedler leben, aber auch das würde nichts ändern. Sollten wir also den Wodka zücken und unseren letzten Tanz tanzen? Nein, natürlich nicht. Ich finde, wir sollten uns auf die Verantwortung zwischen den Generationen konzentrieren. Wie werden die Menschen morgen die Handlungen ihrer Eltern und Grosseltern beurteilen?
Sie sind der akademische Direktor von ALPOLE, dem Zentrum für alpine und polare Umweltforschung der EPFL. Welche Rolle spielt das Zentrum Ihrer Meinung nach?
Das Fachwissen von ALPOLE reicht von der Physik, Chemie und Biologie über hochalpine Phänomene bis hin zu den Polarregionen. Diese Vielfalt ermöglicht es uns, Brücken zwischen den relevanten Disziplinen zu schlagen. Zudem haben wir mit dem Kanton Wallis ein ideales Experimentierfeld.
Die Herausforderung besteht darin, die Forschenden in den Grundlagenwissenschaften zu motivieren, zu praktischen Lösungen beizutragen. Wir müssen eine Art lokales Labor schaffen, um gemeinsam mit Unternehmen, Energieproduzenten und Politikerinnen und Politikern Ideen zu testen, die der lokalen Gemeinschaft zugute kommen. Der Kanton Wallis scheint motiviert zu sein, sich über Skifahren, Tourismus und Wein hinaus weiterzuentwickeln, um bei der Anpassung an den Klimawandel eine Vorreiterrolle in der wissenschaftlichen Innovation zu übernehmen.
Angenommen, es gelingt uns, einen Weg zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen zu finden, wo sehen Sie heute den Keim für diese Lösung?
Einiges davon können wir an unseren Universitäten sehen. Die Studierenden machen deutlich, dass sie nicht nur exzellente Ingenieurfachleute werden wollen, die gut in Mathematik und Robotik sind, sondern auch einen Sinn in ihrem Berufsleben suchen, der auf planetarischen Herausforderungen beruht. Für sie sind Unternehmen, die Millionen verdienen und gleichzeitig das Wasser, die natürlichen Ressourcen und den sozialen Frieden negativ beeinflussen, nicht mehr akzeptabel. Hier müssen Schulen wie die EPFL die Verantwortung übernehmen. Wir bewegen uns auf einem schmalen Grat. Während wir Ingenieurfachleute ausbilden, um die Technologien der Zukunft zu entwickeln, müssen wir gleichzeitig das Verantwortungsbewusstsein unserer zukünftigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fördern. Beides ist nicht unvereinbar.