«Es gibt keine 100 %ige Sicherheit in der Forschung»
Die Pandemie hatte auch einen Silberstreif am Horizont. Zumindest war das in der Schweiz der Fall, wo die Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit die Kommunikation zwischen Politikerinnen und Politikern sowie Forschenden wie nie zuvor ermöglichte. Dank der engen Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Gruppen, wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten, «verlief die Pandemie nicht so schlimm, wie sie hätte verlaufen können», sagt Fellay, der auch das Labor für Humangenomik der Infektion und Immunität der EPFL leitet: «Es gab zweifellos einige Dinge, die wir hätten besser machen können, aber in Bezug auf unsere gemeinschaftliche Reaktion haben wir uns der Herausforderung auf verantwortungsvolle, proaktive und wirksame Weise gestellt.»
Fellay, ein Experte für Infektionskrankheiten, wird im neuen Wissenschaftlichen Beratungsgremium Covid-19 mit 13 weiteren Vertreterinnen und Vertretern aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen den Bund und die Kantone beraten. Das Gremium wird bis Juni 2023 tätig sein und als Forum für die Fortsetzung der gemeinsamen Arbeit und des Dialogs zwischen Politik und Wissenschaft dienen. Wir sprachen mit Fellay über die Arbeitsbeziehungen zwischen diesen beiden Gruppen und darüber, welche Lehren wir seiner Meinung nach aus der Pandemie ziehen können.
Waren Sie als Experte für Infektionskrankheiten beunruhigt, als Covid-19 erstmals auftauchte?
Ich wusste, dass wir früher oder später mit einer weltweiten Pandemie konfrontiert werden würden. Aber es war dennoch eine Überraschung, als ich sah, wie sich die Theorie in der Praxis auswirkte. Covid-19 war eine ernsthafte Bedrohung und erforderte eine konzertierte Anstrengung der Gesellschaft insgesamt und der wissenschaftlichen Gemeinschaft im Besonderen. Die Art und Weise, wie wir dieser Bedrohung begegneten, war beispiellos: Zum ersten Mal überhaupt konnten wir eine Pandemie mit einem Impfstoff bekämpfen, der in rasantem Tempo entwickelt wurde. Dadurch konnten die Zahl der Todesfälle erheblich reduziert und die Auswirkungen der Pandemie gemildert werden. Sicherlich hätte manches noch reibungsloser ablaufen können, aber wir leben nicht in einer idealen Welt.
Glauben Sie also, dass die Pandemie hinter uns liegt?
Was wir sagen können, ist, dass die akute Phase der Pandemie hinter uns liegt und wir nun mit dem Virus leben müssen. Noch immer erkranken und sterben Menschen an Covid, aber für die grosse Mehrheit von uns hat sich das Leben so gut wie normalisiert. Jetzt müssen wir uns mit politischen Fragen auseinandersetzen, z. B. ob die Kosten für Covid-Tests weiterhin übernommen und welche Massnahmen zum Schutz von Risikopersonen ergriffen werden sollten.
Ist Covid nun mehr oder weniger wie eine Grippe zu betrachten?
Nicht wirklich. Die Sterblichkeitsrate bei Covid-19 ist deutlich höher als bei der Grippe, insbesondere bei älteren und immunsupprimierten Menschen. Und wir wissen nicht, welche Folgen Long Covid hat, unter dem ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung leidet. SARS-CoV-2 ist ein aggressives Virus. Ich persönlich trage in öffentlichen Verkehrsmitteln immer noch eine FFP2-Maske und habe meine zweite Auffrischung des Impfstoffs erhalten.
Wie hat die wissenschaftliche Gemeinschaft reagiert?
Die Forschenden taten das, was sie am besten können: Daten sammeln und analysieren, Hypothesen testen und Ergebnisse vergleichen. Aber sie taten dies in einem erstaunlichen Tempo und in voller Transparenz – normalerweise wird diese Art von Forschung und Entwicklung unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt. In einer Krise brauchen die Menschen klare Antworten, aber Wissenschaftlerinnen können nur bedingte Antworten geben. Das Grundprinzip der wissenschaftlichen Methode besteht darin, Fakten und Annahmen zu hinterfragen. Forschende können niemals Aussagen mit 100-prozentiger Gewissheit machen. Menschen, die glauben, dass Wissenschaft immer nur schwarz und weiss sein sollte, standen unseren Empfehlungen daher skeptisch gegenüber.
Und die Reaktion der Politik?
Während die Rolle der Wissenschaft darin besteht, verschiedene Optionen auf der Grundlage von Daten und Modellen vorzuschlagen, besteht die Rolle der Politik darin, Entscheidungen zu treffen. Dafür sind Politikerinnen und Politiker gewählt und mit entsprechenden Befugnissen und Verantwortung ausgestattet worden. Die Schweizer Regierung hat die Task Force ins Leben gerufen, damit die politischen Entscheidungstragenden Zugang zu den Forschungsergebnissen haben, sobald diese verfügbar sind.
Hat dieser Ansatz funktioniert?
Es gab einige Anlaufschwierigkeiten, da sich die Beteiligten erst einmal zurechtfinden mussten. Einige Forschende hatten Schwierigkeiten, ihrer Rolle als Beratende gerecht zu werden, während einige Politiker die Art und Weise, in der die Task Force mit der Öffentlichkeit kommunizierte, nicht zu schätzen wussten. Aber beide Gruppen bemühten sich, einander zu verstehen, und nach einer Weile konnten wir reibungslos zusammenarbeiten. Ich hoffe, dass diese Art des offenen Dialogs fortgesetzt wird.
Ist das auch das Ziel des neuen wissenschaftlichen Beratungsgremiums?
Ja. Die Gremien, die den Ausschuss ins Leben gerufen haben, nämlich die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren, das Eidgenössische Departement des Innern und das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, wollten sicherstellen, dass sie von der Wissenschaft auf strukturierte Art und Weise immer die neuesten Informationen erhalten können. Der Ausschuss wird sich einmal pro Woche treffen, um die neuesten Entwicklungen zu besprechen und Fragen zu stellen.
Warum ist der Ausschuss nur auf einige Monate angelegt?
Die Idee war, die Wintersaison abzudecken, aber auch einen neuen wissenschaftlichen Beratungsmechanismus zu testen, der auch in anderen Bereichen angewendet werden könnte.
Sind Sie der Meinung, dass es mehr Wissenschaftler in der Politik geben sollte?
Das könnte insgesamt zu einem besseren Verständnis führen. Aber die wichtigste Botschaft ist, dass alle politischen Entscheidungträgerinnen auf dem neuesten Stand der Fakten sein müssen. Auch wenn es mehr Forschende im Parlament gibt, müssen die politischen Entscheidungträger eng mit Fachleuten zusammenarbeiten.
Wie hat sich die Presse Ihrer Meinung nach verhalten?
Im Grossen und Ganzen würde ich sagen, dass sie gute Arbeit geleistet und verschiedene Standpunkte erfolgreich dargestellt hat. Wir haben hier in der Westschweiz ein ausgezeichnetes Niveau an Wissenschaftsjournalismus, so dass diejenigen, die sich während der Pandemie über die Entwicklungen in der Forschung informieren wollten, dies auch tun konnten.
Was halten Sie von der wissenschaftlichen Kommunikation mit der Öffentlichkeit?
Als wir hier in der Schweiz 1998 das Referendum über die Gentechnik abhielten, wurde den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern endlich klar, dass sie keine andere Wahl hatten, als mit den Wählerinnen und Wählern zu sprechen, denn die Themen, um die es ging, waren zu wichtig. Das war das erste Mal, dass die Forschenden wirklich aus ihrem Elfenbeinturm herunterkamen. Heute gibt es viele verschiedene Kanäle für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit, aber es stimmt, dass die meisten unserer Botschaften an Menschen gehen, die bereits ein Interesse an der Wissenschaft haben. Dennoch ist es unsere wichtige, ja sogar unverzichtbare Aufgabe, mit der breiten Öffentlichkeit auf eine Weise zu kommunizieren, die sie verstehen kann. Und wir haben gesehen, dass sie eine Menge über die Forschung zu sagen hat, die wir betreiben. Hier bietet sich die Gelegenheit, eine echte Partnerschaft zu bilden, nach dem Vorbild der Bewegung für Bürgerwissenschaft, die gerade im Gange ist. Nicht-Fachleute können uns frische Ideen liefern und uns aus unserer Silo-Mentalität herausholen.
Hat die Covid-Forschung Ihre anderen Forschungsarbeiten verdrängt – entweder bei Ihnen persönlich oder bei der wissenschaftlichen Gemeinschaft im Allgemeinen?
Nicht wirklich. Ich persönlich forsche im Bereich der Humangenomik von Infektionskrankheiten hauptsächlich mit Bioinformatik, und wir konnten unsere Systeme während der Pandemie weiter nutzen. Ganz allgemein mussten einige Forschungsarbeiten auf Eis gelegt werden, aber nur für kurze Zeit. Ich denke jedoch, dass die Covid-Forschung, die durchgeführt wurde, letztendlich der Biomedizin insgesamt zugute kommen wird. Das Gleiche geschah vor fast 40 Jahren mit HIV: Als AIDS aufkam, konzentrierte sich die gesamte wissenschaftliche Gemeinschaft auf die Bekämpfung der Krankheit und machte eine Reihe von Entdeckungen, die auch in anderen Bereichen nützlich waren. Die Covid-Pandemie diente dazu, die Forschungsanstrengungen zu konzentrieren und zu beschleunigen. In der Humangenomik haben wir in einem Jahr erreicht, wofür wir unter normalen Umständen ein Jahrzehnt gebraucht hätten. Das Tempo der wissenschaftlichen Entdeckungen hat sich deutlich erhöht – und die Menschheit wird davon nur profitieren.
Ich möchte hinzufügen, dass die Pandemie einmal mehr gezeigt hat, wie wichtig die Grundlagenforschung ist. Dank der jahrzehntelangen Forschung auf dem Gebiet der Messenger-RNA war die Wissenschaft in der Lage, so schnell und effektiv einen Impfstoff zu entwickeln. Das ist der Beweis dafür, dass Wissenschaft zwar in Krisenzeiten wichtig, aber auch in Zeiten, in denen alles seinen gewohnten Gang geht, unverzichtbar ist.