Genf und Casablanca: zwei Ansätze für eine globalisierte Stadtentwicklung
Genf und Casablanca haben eine starke symbolische Kraft in der Vorstellung der Menschen, aber aus ganz anderen Gründen. Genf liegt an den ruhigen Ufern des Genfer Sees; es ist bekannt als Geburtsort des Calvinismus und ist die archetypische internationale Stadt. Casablanca, die «Weisse Stadt», liegt am unbändigen Atlantik und wurde in Michael Curtiz' gleichnamigem Film verewigt. Aber eines haben die beiden Städte gemeinsam: Sie sind beide von den Kräften der Globalisierung geprägt, die seit dem Ende des 20. Jahrhunderts an Dynamik gewonnen haben. In einer Landschaft, die vom Neoliberalismus, der Konkurrenz zwischen den Metropolen und dem grenzüberschreitenden Fluss von Menschen, Gütern und Kapital geprägt ist, können sowohl Genf als auch Casablanca als globalisierte Städte bezeichnet werden, und beide wetteifern darum, ihre Attraktivität durch grosse Stadtentwicklungsprojekte zu erhöhen.
Kamil Hajji wuchs in Casablanca auf und zog fürs Studium in die Schweiz. Er hat an der EPFL Architektur studiert und am Labor für Stadtsoziologie (LaSUR) der EPFL seinen Abschluss gemacht. Nachdem er aus erster Hand den raschen Wandel von Casablanca und später von Genf miterlebt hatte, beschloss er, sich in seiner Dissertation auf einen Vergleich ihrer Entwicklungsmuster zu konzentrieren. Dabei untersuchte er insbesondere, wie ihre Stadtentwicklungsprojekte von den Marktkräften und lokalen Widerständen beeinflusst werden. Die öffentliche Verteidigung seiner Dissertation fand am 29. Oktober statt.
Eine umfassende Studie
Hajji untersuchte die Entwicklungsprojekte für die neuen Stadtviertel Casa Anfa und Casa Marina in Casablanca sowie für die neuen Projekte Praille Acacias Vernets (PAV ) und O'Vives in Genf. Sein Ziel war es, genau zu verstehen, wie jedes dieser Viertel von der Globalisierung beeinflusst wurde. «Globalisierung bedeutet, dass in Städten auf der ganzen Welt im Wesentlichen die gleiche öffentliche Politik und Strategie verfolgt wird. Das Kapital bewegt sich freier, und die lokalen Regierungen versuchen, es anzuziehen und lokal zu halten. Sie setzen also Strategien mit sehr ähnlichen Grundlagen um. Das sieht man an ihren Gebäuden – Hochhäusern und anderen städtischen Strukturen, die Menschen anziehen sollen», sagt Hajji.
Er hat jedes Projekt eingehend untersucht und Interviews mit politischen Entscheidungsträgern, Investorinnen, lokalen Gruppen und Menschen geführt, die aus ihren Häusern vertrieben wurden, um Platz für die neuen Entwicklungen zu schaffen. Er las auch die Protokolle von Nachbarschaftstreffen und durchsuchte sorgfältig die Stadtarchive. «Ich wollte die Projekte bis zu den Anfängen zurückverfolgen und genau sehen, wie sich der Prozess entwickelte», sagt Hajji, der sich zweifellos auf journalistische Fähigkeiten stützte, die er von seinem Vater geerbt hatte. «Ich wollte auch sehen, ob sich die Viertel in Gated Communities verwandeln würden, in denen Menschen einer bestimmten sozialen Schicht sich von der Aussenwelt abschotten», fügt er hinzu. «In Marokko sah ich die negativen sozialen Auswirkungen der Globalisierung – das ist ein Thema, das mir am Herzen liegt und das ich besser verstehen wollte.»
Lokaler Widerstand
Durch den Vergleich dieser beiden globalisierten, dynamischen Städte mit sehr unterschiedlichen politischen Systemen gewann Hajji einen einzigartigen Einblick in die zugrunde liegenden Mechanismen der Globalisierung. In der Schweiz sah er eine halbdirekte Demokratie, in der lokale Widerstände gewinnorientierte Initiativen blockieren können. In Marokko, wo die konstitutionelle Monarchie nach den Protesten des Arabischen Frühlings 2011 reformiert wurde, um mehr Demokratie einzuführen, sah er, wie lokale Widerstandsbewegungen Gestalt annehmen können und wie viel Einfluss sie auf lokale Regierungen und Investoren haben. In beiden Ländern bewertete Hajji, wie viel Macht die Kommunen – die unterste Stufe der Demokratie – besitzen.
Der CFC First Tower, 122 Meter hoch, im Herzen des Geschäftsviertels Casa Anfa von Casablanca. © Wolkenkratzer
Beim PAV-Projekt in Genf stellte Hajji fest, dass das lokale Widerstandssystem der Schweiz zu langwierigen Verhandlungen und einer Reihe von Zugeständnissen führte und damit zu einem endgültigen Entwicklungsplan, der sich erheblich vom ursprünglichen Vorschlag unterschied. In Casablanca jedoch führt der eher von oben nach unten gerichtete Ansatz zu Plänen, «die näher an der ursprünglichen, globalisierten Vision des Entwicklers liegen. Das liegt daran, dass der lokale Widerstand nicht ausreichend organisiert und in der politischen Sphäre nicht ausreichend vertreten ist, um eine grosse Wirkung zu erzielen», sagt Hajji.
Mit seinem Doktortitel in der Tasche absolviert Hajji jetzt ein Postdoc am LaSUR und arbeitet für Mobil'homme, ein Spin-off der EPFL. Aufgrund seiner Forschung glaubt er, dass die Demokratie die Art und Weise, wie die Globalisierung lokal umgesetzt wird, verändern kann. «In demokratischeren Ländern verändert sich das Bild einer neoliberalen, globalisierten Stadt, wenn lokale Erwägungen berücksichtigt werden», sagt er. «Diese Umgebungen neigen auch dazu, Städte mit grösserer sozialer Kohäsion hervorzubringen.»