Mathematik-Talent und Rad-Sensation
Die erste Leidenschaft von Anna Kiesenhofer ist die Mathematik. Auf ihrer Homepage gibt es eine Zeichnung: im Hintergrund mathematische Formeln. Davor sie selbst, aufrecht sitzend in Siegespose auf ihrem Rennrad. Das ist ihre zweite Leidenschaft, das Radrennfahren, das sie 2021 bis an die Olympischen Spiele nach Tokio führte. Sie selbst beschreibt sich als «Mathematikerin & Radfahrerin. Geboren und aufgewachsen in Österreich. Seit 2017 in Lausanne lebend. Minimalistisch, introvertiert, angezogen vom Ungewöhnlichen. Tokio 2021 Goldmedaille.» Ihr Motto: «Trau dich, anders zu sein.» Anders, um das Ungewöhnliche zu erreichen – so etwas wie die Kurzformel der bislang dreissig Jahre der Anna Kiesenhofer.
Diese stehen zunächst im Zeichen ihrer ersten Leidenschaft, der Mathematik. Das Studienfach wählt Kiesenhofer, «weil sie exakter ist als die Physik». An der TU in Wien absolviert sie ihren Bachelor, um dann an der University in Cambridge einen Master in «Pure Mathematics» zu machen – sportlich unterwegs ist sie in dieser Zeit als Triathletin. 2016 rücken Wissenschaft und Sport näher zusammen: An der Universitat Politècnica de Catalunya in Barcelona promoviert Kiesenhofer mit einer Arbeit über «Integrierbare Systeme auf b-symplektischen Mannigfaltigkeiten» mit der Bestnote «excellent cum laude», beschäftigt sich mit «abstrakten mechanischen Systemen, die sich in mathematischen Räumen beschreiben lassen» und «will in der akademischen Welt voranschreiten».
Nach einer Verletzung verlegt sie ihre sportlichen Ambitionen auf das Rad und gewinnt im Jahr ihrer Promotion in Spanien ihr erstes nationales Elite-Strassenrennen. Der Sport drängt immer stärker in ihr Leben. Sie unterschreibt sogar einen Vertrag mit einem Radrennteam, muss aber bald feststellen, dass «das Profileben nichts für mich ist». So bewegt sie sich weiter voran auf dem akademischen Pfad, der vorgezeichnet scheint und heuert an der EPFL in Lausanne als wissenschaftliche Mitarbeiterin an, weil sie dort an erstklassiger Adresse an ihrem Forschungsschwerpunkt, der partiellen Differenzialgleichungen, weiterarbeiten und als Postdoc auch in verschiedenen Bachelor-Studiengängen unterrichten kann. Ein weiterer Mosaikstein auf dem Weg zu einer akademischen Karriere.
Dann kommt das Wendejahr 2021. Nach einer internen Ausscheidung erhält sie einen Startplatz für das olympische Strassenrennen. Die Amateurin vertritt dabei als Einzige die Farben der Donau-Republik, während andere Nationen mit Profimannschaften und einem halben Dutzend Fahrerinnen an den Start gehen Kiesenhofer tritt als Solitär an: Ohne Trainer, ohne Team, vertrauend nur auf ihre Stärken und aufbauend auf ihren eigenen Trainingsplänen, die sie mit Disziplin, Willensstärke und wissenschaftlicher Akribie umgesetzt hat. Und vor allem: Sie weiss um ihre überdurchschnittliche Ausdauer. Mit diesem Fokus steigt sie in das 137 Kilometer lange Rennen und setzt sich von Anfang an bis zum Ziel an der Spitze fest.
«Drei Faktoren sind für den Olympiasieg ausschlaggebend gewesen», analysiert Kiesenhofer nüchtern. «Ich habe sofort attackiert und die Gegnerinnen haben mich unterschätzt, dachten, sie würden mich später im Rennen dann schon wieder ein- und überholen. Ich wurde aber nicht langsamer und konnte meine Ausdauer voll ausspielen.» Dann habe sie natürlich auch das notwendige Wettkampfglück gehabt. Die Radwelt steht Kopf. Der amerikanische TV-Sender CNN schreibt über Kiesenhofer: «Ein Mathegenie, das einen der grössten Schocks in der Olympia-Geschichte ausgelöst hat.» Die publizistischen Schockwellen reichen bis zur «Times of India», den «Arab Times» oder den «China Daily Global» und in Österreich wird sie zur «Sportlerin des Jahres» gekürt.
Das Olympia-Gold verändert alles. Jetzt bekommt sie die finanzielle staatliche Förderung, für die ihre Leistungen vor Tokio nicht ausgereicht hatten. Jetzt kann sie voller Überzeugung sagen, was sie vorher nie gewagt hatte: «Ich bin Profisportlerin.» Hinzu kommt: An der EPFL in Lausanne, auch privat ihr Lebensmittelpunkt, ist ihre Postdoc-Anstellung ausgelaufen. Und so rückt der Profisport ins Zentrum. Gänzlich verdrängt ist das Akademische deshalb nicht.
Die Parallelen zwischen Wissenschaft und Sport sind für Kiesenhofer zu offensichtlich: Beides hat mit Leidenschaft, Fokus, Präzision und Disziplin zu tun. In ihrer Sportart, dem Radsport, ist auch das Mathematische immer präsent. Da geht es etwa um Aerodynamik oder technische Entwicklungen. Um individuelle Leistungspotenziale, die sich über Modellierungen optimieren lassen. Was die CNN-Schlagzeile suggeriert, ist vielleicht nicht einmal gänzlich falsch: Dass mit Kiesenhofer eine Mathematikerin Strassen-Olympiasiegerin geworden ist, ist so gesehen nicht nur Resultat einer ausserordentlich robusten Physis. Und deshalb leuchtet auch ein, was ihr nach der aktiven Sportlerkarriere vorschwebt: der Einstieg in die Sportwissenschaft. «Dann brauche ich etwas für das Hirn», weiss Kiesenhofer. Oder wie es auf der Homepage heisst: «Trau dich, anders zu sein.»