UrbanTwin: Doppelt sehen für Nachhaltigkeit
Zwillinge sind ein faszinierendes Phänomen: Es ist verblüffend zu beobachten, wie eineiige Zwillinge, selbst wenn sie bei der Geburt getrennt wurden, sich in Aussehen, Charakter, Fähigkeiten und persönlichem Geschmack ähneln können. Es zeigt die Macht der DNA, des kleinsten aller Bausteine, die zu überraschend vorhersehbaren Ergebnissen führt.
Nun plant UrbanTwin, eine Zusammenarbeit von Schweizer Forschungsinstitutionen innerhalb des ETH-Bereichs unter der Leitung der EPFL und mit Labors von vier verschiedenen Fakultäten (STI, ENAC, IC und SB) sowie vier Zentren1, eineiige Zwillinge einer anderen Art zu erschaffen, indem neuronale Netze anstelle von DNA verwendet werden, um ein Double einer Schweizer Stadt zu schaffen. Die Wahl fiel auf Aigle, weil die Stadt sehr gross ist, über ein breites Spektrum an Wasserquellen verfügt und eine sehr detaillierte Infrastruktur zur Energieüberwachung besitzt, die zuvor vom Energiezentrum der EPFL entwickelt wurde. Lausanne ist ebenfalls ein potenzieller Partner
Urban Twin ist eine von zehn national finanzierten gemeinsamen Initiativen des ETH-Rats, die sich mit den strategischen Bereichen Energie, Klima und ökologische Nachhaltigkeit befassen. Ziel ist es, ein ganzheitliches Instrument zu entwickeln und zu validieren, das Entscheidungsträgerinnen bei der Erreichung von Umweltzielen wie der Energiestrategie 2050 und der Vision von klimaangepassten «Schwammstädten» unterstützt. Das Instrument wird auf einem detaillierten Modell kritischer städtischer Infrastrukturen wie Energie, Wasser, Gebäude und Mobilität beruhen, das die Entwicklung dieser miteinander verknüpften Infrastrukturen unter verschiedenen Klimaszenarien genau simuliert und die Wirksamkeit von Massnahmen im Zusammenhang mit dem Klimawandel bewertet.
«Städtische Gebiete sind für 75 % der Treibhausgasemissionen verantwortlich, während steigende Temperaturen ihre Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Sie sind ein natürlicher Integrator mehrerer Systeme, darunter Energie, Wasser, Gebäude und Verkehr. Sie sind also der ideale Ort, um eine koordinierte, sektorübergreifende Antwort auf den Klimawandel zu finden, indem die Digitalisierung als systemischer Ansatz genutzt wird», erklärt David Atienza, wissenschaftlicher Direktor des EcoCloud-Zentrums der EPFL für nachhaltiges Cloud Computing und Leiter des Embedded Systems Laboratory (ESL) der EPFL. David Atienza und François Marechal sind die Koordinatoren von UrbanTwin.
«In UrbanTwin wollen wir Informationen aus verschiedenen Quellen sammeln, indem wir neue Plattformen für künstliche Intelligenz (KI) einsetzen und sie mit Hilfe von Cloud-Computing-Technologien in ein detailliertes Modell kritischer städtischer Infrastrukturen wie Energie, Wasser (sowohl sauberes als auch Abwasser), Gebäude und Mobilität und deren gegenseitige Abhängigkeiten integrieren», so Atienza weiter.
«Als innovatives Beispiel dafür, was Digitalisierung und künstliche Intelligenz bieten können, wird dieses Tool in der Lage sein, die zugrunde liegenden sozioökonomischen und ökologischen Faktoren zu berücksichtigen und gleichzeitig die Wirksamkeit von Massnahmen im Zusammenhang mit dem Klimawandel im Voraus zu bewerten», fügt Atienza hinzu, «Ziel ist es, eine Technologie zu entwickeln, die offen ist und auf andere städtische Gebiete in jeder Region der Schweiz angewendet werden kann».
Ausserdem war es wichtig, ein flexibles und realistisches städtisches Umfeld wie Aigle als Fallstudie zu haben: «Unter Bezugnahme auf den Aigle-Demonstrator werden wir einen fortschrittlichen Modellierungs- und Steuerungsrahmen für die Day-Ahead- und Intraday-Steuerung von städtischen/ländlichen Multi-Energie-Systemen entwickeln. Der Rahmen wird in der Lage sein, die physikalischen Zwänge der Strom-, Mobilitäts-, Heiz-/Kühl- und Wassersysteme sowie die Darstellung der stochastischen Natur der verfügbaren Ressourcen zu integrieren. Auf der Grundlage dieses Rahmens wird ein Planungsinstrument für integrierte Energiesysteme entwickelt, das deren täglichen Betrieb berücksichtigt. Ziel ist es, Planungsentscheidungen zu treffen, die den täglichen und untertägigen Betriebsanforderungen gerecht werden», erklärt Mario Paolone, Leiter des Labors für verteilte elektrische Systeme (DESL) der EPFL.
Der Technologietransfer ist ein immer wiederkehrendes Thema, ein anderes ist die interinstitutionelle Zusammenarbeit. Fünf verschiedene Institutionen nehmen daran teil: EPFL, ETH Zürich, WSL (Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft), Empa (Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt) und Eawag (Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz).
Die interinstitutionelle Forschungszusammenarbeit ist für Urban Twin von entscheidender Bedeutung, da die Forscherinnen und Forscher von mehreren Labors in verschiedenen Institutionen gemeinsam geleitet werden. Das Wasserüberwachungssystem wird zum Beispiel die Auswahl der besten Süsswasserquelle und die Messung ihrer Qualität sowie die Modellierung der Abwasserentsorgung umfassen. Es wird auch KI-Technologien enthalten, die Detektivarbeit leisten, mit einem System, das Verschmutzungsquellen so schnell wie möglich aufspürt und Alarme sendet, wobei der Ursprung lokalisiert und gemeldet wird. Zu diesem Zweck wird Giulio Masinelli, ein Doktorand, der von der Empa und der EPFL gemeinsam betreut wird, an der Entwicklung neuer intelligenter multiparametrischer Sensorsysteme arbeiten, um den digitalen Zwilling zu erstellen. «Wir können Daten generieren, indem wir Sensoren an Waschbecken anbringen», erklärt Masinelli, «die die Wasserqualität in der Stadt, den pH-Wert, die Salzkonzentration und andere Messgrössen messen. Wir werden maschinelles Lernen einsetzen, um Beobachtungen zu sammeln und dann Vorhersagen zu machen – mit physikalischen Einschränkungen. Diese Randbedingungen machen eine Simulation so leistungsfähig, weil sie zu einem flexiblen Modell mit vielen Parametern wird.»
«Die Anwendung von partiellen Differentialgleichungen auf die Daten ist ein enormer Aufwand, damit das System verallgemeinert werden kann, ohne dass die Qualität aufgrund physikalischer Beschränkungen und unbekannter Daten sinkt. Das Ergebnis ist ein neuronales Netz, das innerhalb von ein paar Millisekunden Ergebnisse generieren kann: die Auflösung der partiellen Differentialgleichungen. Anschließend können Sie die Parameter so abstimmen, dass sie mit allen Daten funktionieren. Man darf sich nicht zu sehr auf einen Datensatz beschränken, wenn man gute Vorhersagen haben will», so Masinelli weiter.
UrbanTwin bietet den Forschenden eine willkommene Gelegenheit, mit verschiedenen Teams zusammenzuarbeiten, und dies in einer für Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schwierigen Zeit. Die Teilnahme an Horizon Europe wurde den Schweizer Forschenden verwehrt, da das Land die Verhandlungen mit der EU im Jahr 2021 abgebrochen hat, so dass die nationale Finanzierung derzeit die einzige Option ist. Atienza hofft, dass UrbanTwin die Investition der Schweizer Regierung zurückzahlen kann: «Wenn wir die Art und Weise, wie Stadtverwaltungen mit ihren Ressourcen umgehen, verbessern und die Effizienz steigern können, wäre das ein wirklich grosser Schritt.»
Derzeit werden KI und Cloud Computing in der Forschung immer häufiger eingesetzt, wie das EcoCloud-Zentrum der EPFL zeigt. Atienza und Marechal sind davon überzeugt, dass «nachhaltige digitale Zwillingstechnologien durch UrbanTwin implementiert werden, das ein großartiges Werkzeug sein wird, um Entscheidungsträger bei ihrer Arbeit zu unterstützen, indem es riesige Datenbestände durchsucht, um Anomalien oder Empfehlungen zu finden, für die ein Mensch zu lange bräuchte. UrbanTwin wird ein KI-System sein, und zwar ein ganzheitliches: Wir erwarten unerwartete Ergebnisse».
Unerwartete Ergebnisse sollten hier keine grosse Überraschung sein – sie sind typisch Zwilling.
1Professionelles wissenschaftliches Outreach, Kommunikation und wissenschaftliches Projektmanagement werden durch vier EPFL-Zentren gewährleistet, nämlich durch das Zentrum für nachhaltiges Cloud Computing (EcoCloud), das Energie-Zentrum, das Center for Climate Impact and Action (CLIMACT) und das Zentrum für Intelligente Systeme (CIS).