In die Wiege gelegt
Unsere Mutter, unser Vater, unsere Grossväter und Grossmütter sind in uns präsent. Sie haben uns erzogen und waren uns Vorbilder. Sie vererbten uns ihre Gene. Deshalb sind wir ihnen ähnlich und teilen mit ihnen die Veranlagung für gewisse Krankheiten. Doch die Gene sind möglicherweise nicht das einzige Molekulare, was sie uns vererbt haben. Wie die Vorfahren gelebt und was sie erlebt haben, wie sie sich ernährten und ob sie emotional verletzt wurden, kann sich ebenfalls auf uns auswirken – vererbt über biochemische Muster in den Zellen, mit denen sie uns zeugten.
So zeigten Studien aus dem nordschwedischen Dorf Överkalix, die mehr als hundert Jahre zurückblickten, dass Söhne von Männern, die sich im Kindesalter üppig ernähren konnten, ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben. Dies im Vergleich zu Söhnen von Männern, die in kargen Zeiten aufgewachsen sind. Auch auf die zweite Nachfolgegeneration wirkte sich die Ernährungssituation aus: Die Grosssöhne wohlgenährter Männer zeigen ein erhöhtes Diabetesrisiko.
Von Nachkommen von Vietnamkriegsveteranen ist bekannt, dass sie überdurchschnittlich oft an Depressionen, Angstzuständen und Persönlichkeitsstörungen leiden. Und Kinder von Holocaust-Überlebenden reagieren auf eigene traumatische Erlebnisse besonders häufig mit einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Bekannt sind solche generationenübergreifenden Zusammenhänge schon länger. Noch nicht im Detail geklärt ist, wie sie zustande kommen. Die Professorinnen Isabelle Mansuy und Katharina Gapp beschäftigen sich mit dieser Frage. Ihre Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass sogenannte epigenetische Faktoren eine Rolle spielen.
Mit epigenetischen Faktoren sind molekulare Muster in den Zellen gemeint, die nicht direkt mit der Abfolge der DNA-Bausteine zu tun haben. Vielmehr basieren sie auf reversiblen chemischen Veränderungen an einzelnen DNA-Bausteinen, auf der Anordnung der Chromosomen oder auf den RNA-Molekülen in den Zellen.
Die epigenetischen Faktoren werden wahrscheinlich nicht über Hunderte von Generationen vererbt wie unsere Gene. Aber über ein, zwei, in manchen Fällen auch drei oder vier Generationen ist die Weitergabe solcher Muster möglich. Relevant ist das gerade bei Folgen von Stress und Trauma, weil es dem Missbrauch von Kindern, der Gewalt in Familien sowie den Traumata von Kriegsflüchtlingen potenziell eine neue Dimension verleiht. Die seelischen Folgen, mit denen traumatisierte Personen zu leben haben, sind schon tragisch genug. Doch wenn auch noch die Nachkommenschaft Folgen davonträgt, ist die Opferzahl noch einmal deutlich höher.
Charakteristisches Muster
Mansuy und Gapp untersuchten die Vererbung von Traumafolgen an Mäusen. Sie konnten zeigen, dass sich männliche Jungmäuse, die über eine längere Zeit Stress ausgesetzt waren, als ausgewachsene Tiere asozial und ähnlich wie in einer Depression verhalten sowie eine gesteigerte Risikobereitschaft und Gedächtnisdefizite zeigen. Die Wissenschaftlerinnen verpaarten diese Tiere dann mit Kontrollmäusen und untersuchten die Nachkommen. Auch in der nächsten Generation zeigten sich solche Verhaltensauffälligkeiten, einige davon bis in die fünfte Nachkommensgeneration.
Gapp begann ihre Forschung vor Jahren als Doktorandin in der Gruppe von Mansuy. Heute leitet sie an der ETH Zürich eine eigene Forschungsgruppe. Während der Doktorarbeit konnte sie bei Mäusen nachweisen, dass das RNA-Profil in den Spermien für die Vererbung der Stressfolgen mitverantwortlich ist. Sie verglich dazu Tausende RNA-Moleküle aus Samenzellen von Tieren, die selbst oder deren Väter traumatischen Stress erlebten, mit solchen von ungestressten Kontrolltieren.
Auf diese Weise fand sie ein charakteristisches Muster dieser RNA-Moleküle, das sich nur bei gestressten Tieren zeigte. In einem Experiment isolierte sie RNA aus Spermien von gestressten Tieren und injizierte sie in befruchtete Eizellen von ungestressten Eltern. So bewies sie, dass es tatsächlich die Spermien-RNA ist, welche die Information weitergibt, und es sich somit um eine epigenetische Übertragung handelt.
Unvorhersehbarer Stress
Möglich war diese Arbeit, weil Isabelle Mansuy in den Jahren zuvor in Pionierarbeit ein Modell entwickelte, mit dem sich Stress und emotionales Trauma bei Mäusen untersuchen lässt. In dem Modell werden junge Mäuse während zweier Wochen täglich zu einer willkürlichen und somit für die Tiere unvorhersehbaren Zeit während dreier Stunden von ihrer Mutter getrennt. Diese war zusätzlich starkem und unvorhersehbarem Stress ausgesetzt.
Dass RNA nicht nur bei Mäusen, sondern auch bei Menschen auf traumatische Erlebnisse hinweist, konnte ein weiterer Doktorand von Mansuy zeigen. Der Forscher führte eine Untersuchung zusammen mit pakistanischen SOS-Kinderdörfern sowie einem pakistanischen Labor durch, das auf Untersuchungen von Sperma spezialisiert ist. In einer Studie konnte er nachweisen, dass bestimmte RNA-Moleküle im Blut von Waisenkindern gegenüber einer Kontrollgruppe erhöht sind. Dieselben Moleküle waren auch in Blutzellen von erwachsenen Männern verändert, die als Waisen aufgewachsen sind. In einer neueren Studie, welche bereits von Fachexperten begutachtet, aber noch nicht veröffentlicht worden ist, konnte er zeigen, dass die RNA-Moleküle auch im Sperma von Männern, die in der Kindheit eines oder mehrere traumatische Erlebnisse hatten, verändert sind.
Allerdings ist die RNA vermutlich nicht der einzige molekulare Weg der Vererbung von Traumafolgen. Ebenfalls bedeutend sein dürfte die Art und Weise, wie die Chromosomen in den Spermien strukturiert sind, ob sie sehr dicht oder an bestimmten Stellen eher lose in den Zellkern gepackt sind. Zahlreiche Proteine sind in der Lage, sich an die DNA zu heften und damit die Struktur der Chromosomen zu beeinflussen. Und diese Struktur wiederum beeinflusst, welche Gene in den Zellen abgelesen werden – zum Beispiel auch während der Embryonalentwicklung.
Eines der Proteine, welche sich an die Chromosomen heften, ist der Glukokortikoid-Rezeptor. Mit diesem wechselwirken bei Stress ausgeschüttete Hormone, aber auch hormonaktive Substanzen, wie sie unter anderem in Lösungsmitteln, Kunststoffprodukten und Pestiziden vorkommen können. Gapp vermutet daher, dass es auch zu kombinierten Effekten kommen kann, etwa wenn eine Person Schadstoffen ausgesetzt ist, sich ungesund ernährt und dann noch traumatisiert ist. Sie wurde 2021 vom Europäischen Forschungsrat (ERC) mit einem vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) finanzierten Starting Grant ausgezeichnet. In dem damit geförderten Projekt wird sie die Rolle des Glukokortikoid-Rezeptors in der nichtgenetischen Vererbung näher untersuchen.
«Wenn man nun immer klarer sieht, dass das Verhalten von Männern in ihrem Leben vor der Zeugung von Nachwuchs in der Embryonalentwicklung eine Rolle spielen kann, werden Männer mit in die Verantwortung gezogen für die Gesundheit der Kinder», sagt Gapp. Bislang wurde diese einseitig der werdenden Mutter aufgebürdet, mit Ratschlägen wie während der Schwangerschaft nicht zu rauchen und keinen Alkohol zu trinken.
Positive Nachricht
Doch auch wenn die epigenetischen Folgen von Traumata bisher vor allem bei Vätern und ihren Nachkommen nachgewiesen wurden, heisst das nicht, dass eine Vererbung über die weibliche Linie ausgeschlossen ist. Eine solche wurde bisher einfach weniger untersucht, denn die Untersuchung von Spermien ist deutlich einfacher als jene von Eizellen. Und obschon die epigenetischen Folgen von traumatischen Erlebnissen mitunter über Generationen bestehen bleiben, gibt es auch eine positive Nachricht: Sie können rückgängig gemacht werden.
Die ETH-Forscherinnen konnten dies bei Mäusen zeigen, indem sie traumatisierte Jungtiere in einer sozial und geistig anregenden Umgebung platzierten. Diese Mäuse lebten in grösseren Gehegen und Gruppen und hatten Gegenstände zur Verfügung, die sie zur Bewegung und Erkundung animierten. Mehrere Symptome, welche traumatisierte Mäuse sonst zeigen, bildeten sich dadurch zurück, darunter die gesteigerte Risikobereitschaft. Und die anregende Umgebung machte die Traumafolgen nicht nur bei den zuvor gestressten Tieren rückgängig, sondern auch bei dem von ihnen anschliessend gezeugten Nachwuchs. In einer kleineren Studie wiesen die Wissenschaftlerinnen diese Reversibilität ausserdem nicht nur im Verhalten nach, sondern auch auf molekularer Ebene bei einzelnen epigenetischen Faktoren. «Die Haupteigenschaft von epigenetischen Veränderungen ist, dass sie im Gegensatz zu genetischen Veränderungen reversibel sind», sagt Mansuy.
Das deckt sich auch mit dem Wissen der Psychologie und der Psychiatrie. Je früher ein Kind, das missbraucht worden ist oder andere traumatische Erlebnisse hatte, eine Therapie erhält, desto grösser ist die Chance, langfristige Folgen zu minimieren.
Mansuys und Gapps Forschung trägt dazu bei, die Sicht auf die mentale Gesundheit zu verändern. «Leider wird Betroffenen von psychischen Krankheiten manchmal zu verstehen gegeben, sie seien selbst schuld an ihrer Lage», sagt Mansuy. Wenn aber vererbbare Faktoren als Ursache solcher Krankheiten mitspielen, lässt sich diese Unterstellung noch weniger aufrechterhalten als zuvor schon.