Lösung für das Unlösbare
Würde man eine Liste der weltweit führenden Forschenden für Quantencomputer aufstellen, würden Jonathan Home und Andreas Wallraff sehr weit oben stehen. Die beiden Physik-Professoren von der ETH Zürich sind Meister ihres Fachs – und nicht allein: In der Schweiz hat sich in den letzten Jahren eine Expertise in der Quantenforschung etabliert, die mit den grossen Nationen mithalten kann. Ausserdem gibt es zahlreiche junge Unternehmen, die Quantentechnologien entwickeln, wie Zurich Instruments oder ID Quantique.
Alles bestens also? Nicht ganz. «Die Quantentechnologie hat einen grossen Schritt in Richtung Anwendung gemacht», sagt Gabriel Aeppli, Leiter des Forschungsbereichs Photonenforschung am PSI. «Dafür braucht es jetzt Experten mit Fähigkeiten, die weit über das hinausgehen, was selbst eine renommierte Hochschule wie die ETH Zürich leisten kann – vor allem Ingenieure, die Forschungsergebnisse in funktionierende Prototypen umsetzen können.» Und hier komme das PSI ins Spiel. «Ein nationales Labor wie das PSI vereint alle Fähigkeiten, die es für dieses Scale-up braucht», so Aeppli. Damit ist der Übergang vom Grundlagenexperiment zu einer Technologie gemeint, die in absehbarer Zeit echte – irgendwann auch kommerzielle – Probleme lösen kann.
Dass das PSI so etwas kann, beweist es seit Jahren an den Grossforschungsanlagen wie der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS und dem Schweizer Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL, wo Technologien gebraucht werden, die man nicht einfach irgendwo kaufen kann. Das PSI profitiert als nationales Labor davon, dass dort Expertinnen und Experten mit Erfahrung über längere Zeit an komplexen Herausforderungen arbeiten können. Bei einem Forschungsteam an einer Universität ist das nicht gegeben. «Wir haben viele talentierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aber nach ein paar Jahren, meist nach ihrer Promotion, das Team wieder verlassen müssen», so Jonathan Home. Ein Scale-up wie am PSI sei deshalb an der ETH Zürich prinzipiell nicht möglich.
Die ETH Zürich und das PSI haben erkannt, dass sich beide Institutionen bei der Entwicklung von Quantencomputern perfekt ergänzen. Deshalb richten sie gemeinsam den Quantum-Computing-Hub ein. Organisatorisch ist diese Forschungseinrichtung dem Bereich Photonenforschung von Gabriel Aeppli und darin dem Labor für Nano- und Quantentechnologien zugeordnet. Räumlich befindet sich der Quantum-Computing-Hub auf dem PSI-Gelände bei Villigen, wo ein Gebäude für die Quantenforschung aufgerüstet wurde. Dort verfolgen Forschende unterschiedliche Ansätze zur Verwirklichung eines Quantencomputers.
Im Untergeschoss baut das Team von Jonathan Home, Professor für experimentelle Quanteninformation, nun Quantenschaltkreise auf Basis von Ionenfallen. Im Obergeschoss befasst sich Andreas Wallraff, Professor für Festkörperphysik, mit den gleichen Fragen. Er und sein Team nutzen dafür aber ultrakalte supraleitende Bauteile. Noch in diesem Jahr sollen zwei weitere Forschungsteams hinzukommen, die noch andere Konzepte zum Bau von Quantencomputern verfolgen. Von derzeit zwanzig Forschenden soll der Hub in fünf Jahren auf hundert wachsen. Ausserdem entsteht gerade im neuen Park Innovaare in direkter Nachbarschaft zum PSI ein Reinraum mit Nanofabrikationsanlagen, wo die Forschenden eigene Qubits herstellen werden, die Basis jedes Quantencomputers.
Dieses Wachstum organisieren soll Kirsten Moselund, die seit Februar 2022 das Labor für Nanound Quantentechnologien am PSI leitet und damit auch den Quantum-Computing-Hub. Die Professorin für Elektronik und Mikrotechnologie an der ETH Lausanne (EPFL) war zuvor am IBM-Forschungslabor in Rüschlikon, wo sie sich mit Nanophotonik beschäftigte. «Im neuen Hub bringen wir Quantentechnologien und eine starke Technologieplattform zusammen», so Moselund. Um Quantencomputer sei ein regelrechter Wettlauf entbrannt, ähnlich wie beim Rennen um die erste bemannte Mondlandung. Den Hub sieht Moselund dabei in einer ausgezeichneten Startposition: «ETH Zürich und PSI ergänzen sich sehr gut. Und mit Grossforschungsanlagen wie SLS und SwissFEL haben wir Möglichkeiten, die andere nicht haben, zum Beispiel, wenn wir Defekte in Materialien für künftige Quantenchips untersuchen wollen.»
Doch ein so komplexes Problem wie die Realisierung eines alltagstauglichen Quantencomputers braucht zahlreiche Kooperationen. Deshalb arbeiten Forschende des PSI mit vielen weiteren Institutionen zusammen, allen voran dem Schweizer National Center of Competence in Research (NCCR) MARVEL, das an der EPFL seinen Sitz hat und dem Nicola Marzari, Professor an der EPFL, vorsteht.
Noch existieren keine kommerziell verfügbaren universellen und fehlertoleranten Quantencomputer. Solche Apparate, wie sie von IBM oder Google entwickelt werden, kommen derzeit auf wenig mehr als hundert Qubits. Weil jedes Qubit nicht nur die Zustände null und eins, sondern beliebig viele Zustände annehmen kann, und weil die Qubits untereinander «verschränkt» sind, können schon ein paar Dutzend Qubits Probleme bearbeiten, die selbst für Mikroprozessoren mit Milliarden Transistoren zu komplex wären. In den bisher vorgestellten Quantencomputern sind aber immer nur wenige Qubits gleichzeitig miteinander verschränkt, was die tatsächliche Rechenleistung begrenzt.
«Forschende haben schon heute Spass an Quantencomputern », sagt Cornelius Hempel, Gruppenleiter für Quantencomputing mit Ionenfallen am PSI. In der Physik gebe es Fragen, die sich bereits mit fünfzig Qubits lösen liessen. An der ETH Zürich schafft es Homes Team, Gruppen von Atomen mit elektromagnetischen Feldern in einer Ionenfalle zu fangen und diese durch Beschuss mit Laserlicht zu beeinflussen und logische Rechenoperationen ausführen zu lassen. Das PSI plant Mikrochips mit Dutzenden von Ionenfallen, zwischen denen Ionen hin- und hergeschoben werden können und die sich zu einem grösseren Quantenchip verbinden. Das Laserlicht wird über feine Lichtfasern in den Chip gespeist und manipuliert die Atome, indem es ihre energetischen Zustände verändert, während elektrische Felder sie hin und her bewegen. Diese Atome – alle mit gleichen Eigenschaften – sind perfekte Qubits. Die Herausforderung besteht darin, sie zu kontrollieren. Für praktische Anwendungen in der Industrie ist das derzeit noch uninteressant. Ein Beispiel: Nitrogenase ist ein Enzym, mit dem Bakterien Stickstoff aus der Luft binden, der als natürlicher Dünger für Pflanzen dient. Künstlicher Dünger wird heute wie vor hundert Jahren mit dem Haber-Bosch-Verfahren unter erheblichem Energieaufwand hergestellt. Wüsste man, wie das Enzym arbeitet und könnte man das nachbilden, wäre das ein Durchbruch für die Nahrungsversorgung der Menschheit. Doch dieses Rätsel lässt sich bis heute selbst mit Supercomputern nicht lösen. Ein Quantencomputer mit tausend fehlerfreien Qubits könnte jedoch das Enzym in nur wenigen Millionen Rechenoperationen modellieren.
Wobei die Betonung auf «fehlerfrei» liegt. Denn Qubits rechnen heute mit einer Fehlerrate von einem Prozent, was viel zu viel ist. Zum Vergleich: Ein Transistor verrechnet sich bei 1027 (eine Zahl mit 27 Nullen) Rechenoperationen im Schnitt nur einmal. Der Ausweg sind logische Qubits, die aus mehreren physikalischen Qubits bestehen und die Fehler erkennen und beseitigen können. In den Labors von Wallraff und Home wurde die Fehlerkorrektur bereits in kleinem Massstab demonstriert, aber die Fehlerkorrektur wird besser durch die Verwendung immer grösserer Systeme. Für das Nitrogenase-Problem bräuchte man nach manchen Schätzungen etwa tausend physikalische Qubits für ein ausfallsicheres logisches Qubit, was bedeutet, dass die Anzahl der Qubits im Computer etwa eine Million betragen müsste.
Von hundertsiebenundzwanzig physikalischen Qubits, die IBM kürzlich in einem Chip demonstriert hat, auf eine Million Qubits? Das scheint nur eine Frage der Skalierung der Fertigung zu sein. Doch leider gibt es bisher keinen Weg, grössere und komplexere Systeme zu bauen, ohne dadurch auch mehr Fehler in das System zu lassen. Insofern sind alle Erfolgsmeldungen, wie sie von Google, IBM oder Amazon regelmässig verbreitet werden, mit Vorsicht zu geniessen. Es handelt sich um fehlerhafte Geräte, die noch nicht unmittelbar die Vorteile von mehr Qubits nutzen können. Den Quantencomputer, den man sich auf den Schreibtisch stellen kann, um damit echte Probleme zu lösen, wird es in den nächsten zehn Jahren nicht geben, vielleicht sogar nie. Doch die Forschenden sind zuversichtlich, dass kommerzielle Quantencomputer möglich sind. Ein solcher Computer mit Millionen von Qubits würde in einem Rechenzentrum neben den herkömmlichen Supercomputern arbeiten.
An dem Problem der Störanfälligkeit arbeitet auch Alexander Grimm, Physiker am PSI. Für sein neues Projekt COOLCCAT erhielt er im Januar dieses Jahres einen sogenannten ERC-Grant mit einer Forschungsförderung in Millionenhöhe zugesprochen. Grimm möchte eine Sorte Qubits erschaffen, die sich Störungen gegenüber möglichst stabil verhält. Seine Kandidaten: Oszillator-Qubits, auch bosonische Qubits genannt. Diese bestehen beispielsweise aus einem extrem dünnen und schmalen Stück supraleitendem Metall, das einige Millimeter lang ist.
Noch ist nicht einmal klar, welches Qubit-Konzept sich durchsetzen wird. Neben supraleitenden Qubits und Ionenfallen tüfteln Forschende weltweit noch an einem halben Dutzend weiterer Ideen – die man am Quantum-Computing-Hub ebenfalls verfolgen wird, sofern sich dort vielversprechende Umsetzungskonzepte anbahnen. Vielleicht ergeben sich auch ganz neue Optionen, mutmasst beispielsweise Cornelius Hempel: «Wer weiss – vielleicht finden die Kolleginnen und Kollegen an der SLS oder am SwissFEL ein neues Material, aus dem wir viel bessere Qubits bauen können.»
Für Kirsten Moselund gibt es keine Alternative zum Quantum-Computing-Hub. «Die Schweiz braucht eine starke Präsenz in Quantentechnologien », fordert die Ingenieurin. Kommerzielle Quantencomputer, wie sie Google, Amazon und Co vermutlich irgendwann als Clouddienst anbieten werden, seien eine Blackbox, in die man nicht hineinschauen dürfe. Moselund: «Um Quantencomputer sinnvoll nutzen zu können, müssen wir wissen, was unter der Haube passiert. Und das bieten wir am PSI.»