Digitale Zwillinge geben neue Einblicke in die Welt um uns herum
Letztendlich geht es darum, Kopien zu erstellen. Digitale Zwillinge bilden einen Gegenstand oder ein menschliches Organ nach und arbeiten parallel zum - und genau wie das – Original. In Wirklichkeit sind sie eine Kombination aus Daten, Algorithmen und künstlicher Intelligenz, und sie existieren in einer virtuellen Welt, wie ein Avatar. Digitale Zwillinge werden heute in fast allen Branchen eingesetzt: in der Fertigung, im Gesundheitswesen, in der Architektur, im Transportwesen, in der Kommunikationstechnik usw. «Digitale Zwillinge sind Computermodelle von Dingen, die in der realen Welt existieren», sagt Prof. Frédéric Kaplan, Leiter des Laboratory for Digital Humanities der EPFL, «der Begriff kann sich aber auch auf Modelle von abstrakteren Prozessen beziehen, wie z.B. einen Produktionsplan.» Prof. Dimitris Kyritsis, Leiter der EPFL-Gruppe ICT for Sustainable Manufacturing, stimmt dem zu: «Digitale Zwillinge werden mit Modellierungs- und Simulationssoftware erstellt und ermöglichen es uns, physikalische Mechanismen zu untersuchen und zu messen sowie die Auswirkungen verschiedener Entscheidungen in einer virtuellen Welt zu testen. Dank der IoT-Technologie sind die Computermodelle – die sogar Hologramme sein können – zudem permanent mit ihren realen Zwillingen verbunden, was es uns ermöglicht, die von uns verwendeten Systeme besser zu verstehen und ihre Funktionsweise anzupassen.»
Mehrere EPFL-Labors arbeiten im Rahmen des Zentrums für Intelligente Systeme zusammen, um Technologien und Anwendungen für digitale Zwillinge zu entwickeln. Sie befassen sich unter anderem mit der Frage, wie man Städte energieeffizienter machen kann, wie man personalisierte Behandlungen für Patientinnen und Patienten entwickelt und wie man die Plausibilität verschiedener Hypothesen über die Vergangenheit bewerten kann. Die Hoffnung ist, dass digitale Zwillinge es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermöglichen werden, Antworten auf diese und viele andere Herausforderungen zu finden. Es ist jedoch klar, dass die Umsetzung dieser Art von Technologie ein breites Spektrum an Fähigkeiten und Know-how erfordern wird.
Ein disziplinübergreifendes Unterfangen
Prof. David Atienza, Leiter des EPFL-Labors für eingebettete Systeme, und Prof. Adrian Ionescu, Leiter des EPFL-Labors für nanoelektronische Bauelemente, – beide aus der Fakultät für Ingenieurwesen – arbeiten gemeinsam an der digitalen Zwillingstechnologie. Prof. Ionescu entwickelt Sensoren, die Daten über Patienten wie Herzfrequenz, Muskelbewegungen und sogar Hirnaktivität durch Elektroenzephalogramm-Scans sowie über Umgebungsbedingungen wie Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Druck erfassen können. In der Zwischenzeit untersucht Prof. Atienza, welche Arten von Sensoren für verschiedene Anwendungen benötigt werden und wo sie am menschlichen Körper oder an einer Maschine angebracht werden sollten. Sein Labor sammelt Daten von den Sensoren und speist sie in KI-Programme ein: «Unsere Aufgabe ist es, alle Daten zu sammeln und ein vollständiges Bild des untersuchten Objekts zu erstellen, damit wir dann einen digitalen Zwilling erstellen können», sagt er.
Modelle des gesamten menschlichen Körpers
Prof. Ionescu und Prof. Atienza sind der Meinung, dass das Ziel von digitalen Zwillingen im Gesundheitswesen die Erstellung von Echtzeitmodellen des gesamten menschlichen Körpers sein sollte. Sie sind davon überzeugt, dass diese Technologie innerhalb der nächsten Jahrzehnte verfügbar sein wird, auch wenn sie hohe Anforderungen erfüllen muss: «Die komplizierteste Art von digitalem Zwilling ist zweifellos der des menschlichen Körpers», sagt Atienza. «Es geht um verschiedene Systeme, die alle miteinander kommunizieren, und um Phänomene, die auf verschiedenen Ebenen auftreten. Und je genauer der digitale Zwilling sein soll, desto länger dauert seine Entwicklung. Es gibt noch eine Reihe von Entwicklungsschritten und Versionen, die wir durcharbeiten müssen.»
Anwendungen in Produktion und Stadtplanung
Die EPFL-Forschenden untersuchen auch den Einsatz von digitalen Zwillingen in der Produktion. So entwickeln die Ingenieurfachleute im Labor von Prof. Kyritsis digitale Zwillinge, die Produktionslinien in Echtzeit überwachen und steuern können: «Diese Technologie könnte besonders für gefährliche Produktionsprozesse nützlich sein, etwa in den gefährlicheren Bereichen von Stahlwerken und Kraftwerken», sagt er.
Nächstes Jahr wird die EPFL in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen im Rahmen des Blue City-Projekts ihren ersten digitalen Zwilling einer Stadt erstellen. Ziel ist es, einen digitalen Zwilling von Lausanne zu erstellen, der die verschiedenen Systeme und Interaktionen modelliert: von Mikroben und Abfällen bis hin zu Energie, Wasser, Materialien, Menschen, Fahrzeugen und mehr. «In den Bereichen Architektur und Stadtplanung sind digitale Zwillinge datenbasierte Nachbildungen von Gebäuden oder ganzen Städten», sagt Prof. Jeffrey Huang, Leiter des Labors für Medien und Design der EPFL, das sich zwischen der Fakultät für Informatik und Kommunikationswissenschaften (IC) und der Fakultät für Architektur, Bau- und Umweltingenieurwesen (ENAC) befindet. «Im Gegensatz zu konventionellen 3D-Modellen, die die sichtbaren Aspekte dieser Systeme abbilden – wie die Form der Gebäude, verwendete Materialien und andere physische Elemente – geben digitale Zwillinge auch Einblick in die unsichtbaren Aspekte wie Lärm, Verschmutzung und dynamische Strömungen. Diese zusätzlichen Informationen sind für Architektinnen, Stadtplaner und Stadtbewohnerinnen äusserst hilfreich.»
Digitale Zwillinge zur Überwachung?
Digitale Zwillinge stehen kurz davor, in unser tägliches Leben einzutreten. Doch bevor es so weit ist, muss noch mehr geforscht werden – nicht nur auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet, sondern auch in Bezug auf die menschlichen Aspekte: «Wir verfügen noch nicht über die richtigen Fähigkeiten», sagt Prof. Kyritsis, «wir müssen Fachleute ausbilden oder umorientieren und sie auf den neuesten Stand der Entwicklungen bringen, denn digitale Zwillinge erfordern Fähigkeiten auf dem neuesten Stand der Technik.» Ausserdem sind digitale Zwillinge datengesteuert, und viele dieser Daten werden von Einzelpersonen stammen. Prof. Huang merkt an: «Es ist leicht, sich eine düstere Zukunft vorzustellen, in der digitale Zwillinge zu Überwachungszwecken eingesetzt und von einer Handvoll Unternehmen oder Regierungen verwaltet werden. Um das zu verhindern, müssen die Universitäten in die Entwicklungsarbeit einbezogen werden, und die ethischen Implikationen müssen von allen Seiten untersucht werden, wenn es darum geht, wie digitale Zwillinge konzipiert werden, damit wir Offenheit, Transparenz und gleichen Zugang gewährleisten können.»
Angesichts der beträchtlichen Fortschritte in der Technologie der digitalen Zwillinge könnten wir eines Tages eine Parallelwelt erleben, in der digitale Zwillinge im virtuellen Raum miteinander interagieren. Mehr dazu erfahren Sie bei den Digital Twin Days der EPFL.
Digitale Zwillinge gehen auf die Apollo 13 zurück
«Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verweisen auf den Unfall von Apollo 13 vor 50 Jahren als ersten wirklichen Einsatz von digitalen Zwillingen. Als die Explosion stattfand, mussten die NASA-Ingenieurfachleute am Boden das Problem suchen und eine Lösung finden – obwohl das Schiff Hunderttausende von Kilometern entfernt war. Die drei Astronauten an Bord waren im Inneren des Schiffes gefangen und konnten die durch die Explosion verursachten Schäden nicht visuell begutachten.
Die NASA-Ingenieurinnen und -Ingenieure waren in der Lage, mit Hilfe von vernetzten Computern Simulationen der wichtigsten Komponenten des Raumschiffs durchzuführen. So wurden beispielsweise vier Computer für die Simulation des Kommandomoduls und drei weitere für die Simulation der Mondlandefähre verwendet. Diese Computer wurden mit den vom Raumschiff übertragenen Daten synchronisiert – was bedeutete, dass die Datenübertragung zwischen dem Raumschiff und der Missionskontrolle unbedingt aufrechterhalten werden musste. Kurzum, die Simulationen erfüllten alle Kriterien für digitale Zwillinge.
Und es war zu einem grossen Teil den Simulationen auf den verbundenen Computern – den digitalen Zwillingen – zu verdanken, dass Ingenieurinnen und Astronauten zusammenarbeiten, das Problem eingrenzen und schliesslich die Mission retten konnten. Besonders beeindruckend ist, dass es sich bei dem Simulationssystem nicht um einen einzigen digitalen Zwilling handelte, sondern um eine Sammlung digitaler Zwillinge, von denen jeder eine bestimmte Komponente modellierte, die miteinander kommunizierten», so Prof. Frédéric Kaplan, Leiter des EPFL-Labors für digitale Geisteswissenschaften.