Erneuerbare Energien stellen Stromnetze auf den Prüfstand
Die Dekarbonisierung unserer Gesellschaft wird bedeuten, dass wir einen Grossteil des derzeit verwendeten Erdöls und Erdgases durch Strom ersetzen müssen. Und die Nachfrage nach Strom wird weiter steigen, da die Verbraucherinnen und Verbraucher ihr Heizöl gegen Wärmepumpen und ihre Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor gegen Elektrofahrzeuge austauschen. Wind- und Solarenergie werden einen wachsenden Teil dieser Nachfrage decken, während die Kernenergie zumindest in der Schweiz auslaufen wird. Die Elektrizität hat jedoch einen grossen Nachteil: Sie sollte am besten direkt bei ihrer Erzeugung genutzt werden, denn eine längere Speicherung ist schwierig und mit relativ hohen wirtschaftlichen, ökologischen und energetischen Kosten verbunden. In Anbetracht der intermittierenden, variablen und dezentralen Natur der erneuerbaren Energien ist klar, warum wir unsere bisherige Herangehensweise an Stromnetze überdenken müssen – oder die Art und Weise, wie wir elektrische Energie erzeugen, transportieren, verteilen und verwalten.
Eine Frage des Timings
«Je mehr wir uns auf erneuerbare Energien mit unvorhersehbarer Stromerzeugung verlassen, desto mehr müssen wir auch auf Reserven zurückgreifen», sagt Mario Paolone, Leiter des Labors für verteilte elektrische Systeme (DESL) der EPFL. Zumal heute die Nachfrage den Takt angibt. Die Nachfrage gilt als unveränderlich, und so muss das Angebot entsprechend angepasst werden. Die Menschen wollen zu jeder Tages- und Nachtzeit, im Sommer wie im Winter, das Licht einschalten, den Herd nutzen und ihr Auto aufladen können. Deshalb halten die Netzbetreiber Stromreserven bereit, die in unterschiedlichen Zeitintervallen abgerufen werden können. Dazu gehören eine Primärreserve, die innerhalb weniger Minuten abgerufen werden kann, eine Sekundärreserve, die innerhalb von 15 Minuten und einer Stunde abgerufen werden kann, und eine Zusatzreserve für darüber hinausgehende Zeiträume. Für jede Art von Reserve gibt es ein entsprechendes Stromspeichersystem.
Zum Glück ist die Schweiz nicht allein. Unser Stromnetz ist mit dem übrigen Europa verbunden, so dass wir Ressourcen, Speichersysteme und Kosten mit anderen Ländern zusammenlegen können. «Der Traum von einer autarken Stromversorgung ist weder technisch noch finanziell optimal, wenn wir uns auf die Schweiz beschränken», sagt Paolone, «Europa muss als Ganzes energieunabhängig werden.»
Die Elektrifizierung unserer Prozesse und die Umstellung auf erneuerbare Energien werden sich in zweierlei Hinsicht auf die Stromnetze auswirken. Zum einen wird sich die Art und Weise ändern, wie die Betreiber die Last in ihren Netzen ausgleichen und Reserven speichern: «Im Moment ist Synthesegas aus erneuerbaren Energien die vielversprechendste Methode, um Strom zu speichern und auf saisonale Schwankungen zu reagieren», sagt Paolone. Gaskraftwerke können einspringen, um die überschüssige Nachfrage zu decken. Die Betreiber können auch Power-to-Gas-Anlagen einrichten, die überschüssigen Strom nutzen, um sauberen Wasserstoff zu erzeugen, der wiederum zu Synthesegas verarbeitet wird. Erdgasunternehmen sind sehr an der Power-to-Gas-Technologie interessiert, weil sie damit ihre bestehende Übertragungs- und Verteilungsinfrastruktur weiter nutzen können», sagt Mario Paolone, «aber dafür müssen die Ingenieurfachleute effiziente, grosstechnische Systeme zur Kohlenstoffabscheidung entwickeln.»
Er weist auch darauf hin, dass «bei der Dekarbonisierung der Schweiz die Wasserkraft eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung dieser Art von Flexibilität für die Stromnetze spielen wird. Sie ist die einzige vollständig erneuerbare Energiequelle, die wir kontrollieren können. Das wird in Zukunft ein entscheidender Vorteil sein.»
Wasserkraftwerke bieten die Flexibilität, Lastschwankungen während des Tages oder der Jahreszeiten auszugleichen. Diese Flexibilität hängt zum Teil von der Art des Kraftwerks ab, zum Beispiel davon, ob es sich um ein Staukraftwerk (d. h. ein Kraftwerk, das Niederschläge und Gletscherabflüsse sammelt) oder um ein Pumpspeicherkraftwerk handelt. Die EPFL koordinierte vor kurzem das grösste Forschungs- und Entwicklungsprogramm der EU für Wasserkraftwerke mit dem Namen XFLEX Hydro. Das Programm untersuchte kleine Änderungen, die an Wasserkraftwerken vorgenommen werden können, um deren Kapazität zu erhöhen und so die Zuverlässigkeit der europäischen Stromnetze insgesamt zu verbessern. Die im Rahmen des Programms entwickelte Technologie kann die von den Netzbetreibern erbrachten Hilfsdienste verbessern, d. h. die Dienste, die das Angebot kontinuierlich an die Nachfrage anpassen, was dazu beiträgt, die Zuverlässigkeit der lokalen und regionalen Netze aufrechtzuerhalten und sie widerstandsfähiger gegen Schwankungen in der Energieversorgung zu machen, sowohl jetzt als auch in Zukunft.
Illustration © Eric Buche
Batterien als Retter in der Not
Wenn es um den untertägigen Lastausgleich geht, können Batterien ein starker Verbündeter sein. Paolone ist davon überzeugt, dass Lithiumbatterien in den dekarbonisierten Stromnetzen von morgen eine Schlüsselrolle spielen werden: «Sie liefern sehr hohe Erträge und können schnell zwischen der Aufnahme und der Einspeisung von Strom wechseln», sagt er, «diese Fähigkeiten werden für das Management der Primärreserven unerlässlich sein. Darüber hinaus werden Lithiumbatterien bald Zehntausende von Zyklen durchlaufen können. Das ist ein grosser Vorteil für die Netzbetreiber. Die Kraftwerke, die sie bauen, sollen 10 oder 20 Jahre halten, und die Technologie beginnt, mit diesem Zeitrahmen kompatibel zu sein.»
Ausserdem ist das Potenzial bereits vorhanden: «Die Stromnetze der Welt werden bis 2035 eine Gesamtkapazität von etwa 180 GWh/Jahr benötigen», sagt Paolone, «und etwa zur gleichen Zeit werden etwa 100 GWh bis 200 GWh an Kapazität verfügbar sein, da die Batterien von Elektrofahrzeugen (EV) das Ende ihrer Lebensdauer erreichen. Das passt perfekt zusammen.» Allerdings gibt es noch einige technische Hürden zu überwinden. Die DESL-Ingenieurfachleute entwickeln Methoden zur Messung der Restkapazität von Autobatterien, um ihnen ein zweites Leben zu geben: «Wir können jetzt bestimmen, wie viele und welche Zyklen Second-Life-Batterien innerhalb eines Stromnetz-Zyklus durchlaufen können», sagt Paolone. «Da die Zyklen eines Stromnetzes viel weniger intensiv sind als die von Autos, könnten diese Batterien noch mehrere Jahre lang nützlich sein.»
Aufbau eines stärkeren Netzes
Die zweite Art und Weise, wie sich der Übergang zu erneuerbaren Energien auf die Stromnetze auswirken wird, betrifft die Netzinfrastruktur selbst. «Wir brauchen mehr Stromübertragungsleitungen. Heute sind die Übertragungsleitungen auf allen Ebenen – von der Hochspannung bis zur Verteilung – zu bestimmten Zeiten voll ausgelastet, und dieses Problem wird sich im Laufe der Zeit weiter verschärfen», erklärt Paolone: «In der Schweiz brauchen wir rund 40 GWp an Photovoltaikleistung, wenn man davon ausgeht, dass die Kernenergie abgeschafft wird und alle Privatfahrzeuge und Heizungen elektrisch betrieben werden. Das DESL-Modell zeigt jedoch, dass die Mittelspannungsleitungen bereits bei 13 GWp überlastet sind. Das Land wird also erhebliche Investitionen in den Ausbau der Strominfrastruktur tätigen müssen.»
Lokale, dezentrale Stromspeichersysteme – oder anders gesagt: Batterien – würden dazu beitragen, den Bedarf an neuen Stromleitungen zu verringern. DESL-Ingenieurfachleute haben Optimierungsalgorithmen entwickelt, die auf der Grundlage des in einer Gemeinde erzeugten Solarstroms und der Belastung des örtlichen Netzes genau ermitteln können, wo Speichersysteme installiert werden sollten und wo die Netzkapazität erweitert werden muss, um die Stromkosten der Gemeinde zu minimieren.
Doch es gibt noch ein weiteres Problem, das der Suche nach dem optimalen Energiemix, dem Stromspeicher und der Strategie für den Lastausgleich im Wege steht: «Heute bleiben unsere Netze stabil und zuverlässig, weil wir die Stromerzeugung wirksam kontrollieren und die Netzplanung und den Netzbetrieb solide gestalten», sagt Paolone. «Das ist möglich, weil wir nur relativ wenige Kraftwerke zu verwalten haben. Aber was wird passieren, wenn wir Millionen von dezentralen Stromerzeugern haben, die sich der Kontrolle der Netzbetreiber entziehen? Wenn 1 GW des heutigen Atomstroms durch 5 GWp dezentraler Solarpaneele ersetzt wird, wie wird man das managen? Die Zahl der Variablen, mit denen die Netzbetreiber jonglieren müssen, wird explosionsartig ansteigen. Technisch gesehen könnten wir unseren gesamten Strombedarf mit Photovoltaik decken, aber dazu müssten wir unsere Netzsteuerungssysteme, Übertragungs- und Verteilungssysteme und den Strommarkt grundlegend ändern.»
Natürlich gibt es noch den Teil der Gleichung, der die Nachfrage betrifft. Eine weitere Möglichkeit, den Bedarf an Stromspeichern zu verringern, besteht darin, die Nachfrageschwankungen besser zu kontrollieren: «Wenn wir in der Lage sind, die Last im Netz effektiv zu modulieren, können wir so ziemlich alles tun», sagt Paolone. Zu den Technologien, die in dieser Richtung entwickelt werden, gehören Steuerungssysteme für Ladestationen für Elektrofahrzeuge, bidirektionales Laden von Elektrofahrzeugen und variable Strompreise in Echtzeit.