Wie die Epigenetik die Gedächtnisbildung beeinflusst

In einer für das Verständnis der Entstehung von Erinnerungen wichtigen Studie zeigen EPFL-Forschende, dass die Flexibilität des Chromatins – der in der Zelle verpackten DNA – eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung spielt, welche Neuronen an der Bildung einer bestimmten Erinnerung beteiligt sind.
© EPFL/iStock

Wenn wir eine neue Erinnerung bilden, erfährt das Gehirn physikalische und funktionelle Veränderungen, die als «Gedächtnisspur» bezeichnet werden. Eine Gedächtnisspur stellt die spezifischen Aktivitätsmuster und strukturellen Veränderungen der Neuronen dar, die auftreten, wenn eine Erinnerung gebildet und später abgerufen wird.

Doch wie «entscheidet» das Gehirn, welche Neuronen an einer Gedächtnisspur beteiligt sein werden? Studien haben nahegelegt, dass die inhärente Erregbarkeit der Neuronen eine Rolle spielt, aber die gegenwärtig akzeptierte Sichtweise des Lernens hat es vernachlässigt, einen Blick in die Kommandozentrale des Neurons selbst, seinen Kern, zu werfen. Im Zellkern scheint es eine ganz andere Dimension zu geben, die bisher unerforscht war: die Epigenetik.

In jeder Zelle eines lebenden Organismus ist das von der DNA kodierte genetische Material dasselbe, doch die verschiedenen Zelltypen, aus denen der Körper besteht, wie z. B. Hautzellen, Nierenzellen oder Nervenzellen, drücken jeweils einen anderen Satz von Genen aus. Die Epigenetik beschreibt den Mechanismus, wie Zellen diese Genaktivität steuern, ohne die DNA-Sequenz zu verändern.

Nun haben Wissenschaftsteams der EPFL unter der Leitung des Neurowissenschaftlers Johannes Gräff untersucht, ob die Epigenetik die Wahrscheinlichkeit beeinflussen könnte, dass Neuronen für die Gedächtnisbildung ausgewählt werden. Ihre Forschungen an Mäusen, die jetzt in Science veröffentlicht wurden, zeigen, dass der epigenetische Zustand eines Neurons der Schlüssel zu seiner Rolle bei der Gedächtniskodierung ist: «Wir beleuchten den frühesten Schritt der Gedächtnisbildung von einer DNA-zentrierten Ebene aus», sagt Gräff.

Gräff und sein Team fragten sich, ob epigenetische Faktoren die «mnemotechnische» Funktion eines Neurons beeinflussen könnten. Ein Neuron kann epigenetisch offen sein, wenn die DNA in seinem Kern ungeordnet oder locker ist, und geschlossen, wenn die DNA kompakt und fest ist.

Sie fanden heraus, dass die offenen Neuronen mit grösserer Wahrscheinlichkeit in die «Gedächtnisspur» aufgenommen werden, d. h. in die spärliche Gruppe von Neuronen im Gehirn, die elektrische Aktivität zeigen, wenn sie etwas Neues lernen. Die Neuronen, die sich in einem offeneren Chromatinzustand befanden, waren auch diejenigen, die eine höhere elektrische Aktivität aufwiesen.

Les neurones présentent des niveaux variables de compaction de la chromatine, représentés par différentes nuances de rouge. Moins un neurone est compact, plus il est susceptible d'être recruté dans la trace mnésique (en vert). Crédit : Giulia Santoni (EPFL)

Neuronen weisen unterschiedliche Grade der Chromatinverdichtung auf, die durch verschiedene Rotschattierungen dargestellt werden. Je weniger kompakt ein Neuron ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es in die Gedächtnisspur rekrutiert wird (grün). Bildrechte: Giulia Santoni (EPFL)

Die EPFL-Forschenden setzten dann ein Virus ein, um epigenetische Enzyme zu verabreichen, die die Offenheit der Neuronen künstlich herbeiführen. Sie stellten fest, dass die entsprechenden Mäuse viel besser lernten. Als das Team den umgekehrten Ansatz wählte, um die DNA der Neuronen zu schliessen, wurde die Lernfähigkeit der Mäuse aufgehoben.

Die Ergebnisse eröffnen neue Wege zum Verständnis des Lernens, die den Neuronenkern einbeziehen, und könnten eines Tages sogar zu Medikamenten zur Verbesserung des Lernens führen. Gräff erklärt: «Sie rücken von der vorherrschenden neurowissenschaftlichen Sichtweise auf Lernen und Gedächtnis ab, die sich auf die Bedeutung der synaptischen Plastizität konzentriert, und legen den Schwerpunkt neu auf das, was im Kern eines Neurons, auf seiner DNA, geschieht. Dies ist besonders wichtig, da viele kognitive Störungen wie die Alzheimer-Krankheit und die posttraumatische Belastungsstörung durch fehlgeschlagene epigenetische Mechanismen gekennzeichnet sind.»

Weitere Informationen

Weitere Mitwirkende

  • EPFL-Labor für Verhaltensgenetik
  • EPFL-Kompetenzzentrum für Bioinformatik

Finanzierung

  • Europäischer Forschungsrat (ERC)
  • Schweizerischer Nationalfonds (SNF)
  • NCCR Synapsy

Referenzen

Giulia Santoni, Simone Astori, Marion Leleu, Liliane Glauser, Simon A. Zamora, Myriam Schioppa, Isabella Tarulli, Carmen Sandi, Johannes Gräff, Chromatin plasticity predetermines neuronal eligibility for memory trace formation, Science 26 July 2024