Sind Klimaanlagen eine Gefahr für das Stromnetz?
Die offiziellen Zahlen des Schweizer Wetterdienstes sind beeindruckend: Die Temperaturen lagen in diesem Sommer 1,6°C über dem nationalen Durchschnitt für 1991–2020, und es gab eine intensive Hitzewelle mit Spitzenwerten, die in mehreren Kantonen die Rekorde von 2003 erreichten oder übertrafen. Weltweit war dies der zweitheisseste Sommer (nach 2023) seit Beginn der Aufzeichnungen. Und während die Temperaturen steigen, nimmt der Bedarf an Klimaanlagen zu. Nach Angaben des Bundesamts für Energie entfallen inzwischen fast 11 % des Stromverbrauchs in der Schweiz auf die Kühlung – nicht weit entfernt von den 14 % für die Heizung. Klimaanlagen retten Leben, tragen aber auch zur Bildung von Hitzeinseln in den Städten bei (und damit zur Verschärfung der globalen Erwärmung), erhöhen den Druck auf die Kraftwerke und belasten die Stromnetze zusätzlich. Wird das Schweizer Stromnetz die zusätzliche Nachfrage bewältigen können? Wir sprachen mit Prof. Mario Paolone vom EPFL-Labor für verteilte elektrische Systeme, um dies herauszufinden.
© 2024 EPFL/Alain Herzog
Der verstärkte Einsatz von Klimaanlagen bedeutet, dass die Spitzenlast in unserem Stromnetz bald im Sommer und nicht mehr im Winter auftreten wird. Ist das ein Grund zur Besorgnis?
Was das Netz betrifft, so unterscheidet sich die Steuerung der Nachfrage nach Kühlsystemen nicht wesentlich von der Steuerung der Nachfrage nach Heizsystemen. Die Herausforderung besteht jedoch darin, dass der Strombedarf insgesamt steigt, nicht nur wegen der Klimaanlagen, denn immer mehr Prozesse werden elektrisch betrieben. Das gilt sowohl für Unternehmen als auch für Verbraucher. Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge sind effizienter als zum Beispiel Gaskessel und Verbrennungsmotoren. Diese Elektrifizierung von Prozessen ist die treibende Kraft für den Wandel.
Und wie?
Die zusätzliche Nachfrage wirkt sich auf die lokalen Stromnetze aus, die bereits überlastet waren. Bestehende Stromleitungen und Transformatoren waren nicht für die Art von Last ausgelegt, der sie jetzt ausgesetzt sind. Auch die Kraftwerke stehen unter grösserem Druck, da sie den zusätzlichen Strom liefern und genügend Reserven vorhalten müssen, um die oft unvorhersehbaren Nachfragespitzen aufzufangen. Wenn wir die Lücke mit erneuerbaren Energien schliessen wollen, werden schätzungsweise 40 GW zusätzlicher Solarstrom benötigt, um den Strombedarf der Schweiz zu decken, einschliesslich des Stroms für Heizsysteme, Kühlsysteme und Elektrofahrzeuge. Das wird aber die lokalen Stromnetze noch mehr belasten und die erforderlichen Reserven erhöhen.
Kann ein Teil des Drucks dadurch gemildert werden, dass die Nachfrage nach Klimatisierung dann entsteht, wenn die Solarenergie ihren Höhepunkt erreicht?
Das ist auf jeden Fall ein positiver Aspekt der Klimatisierung: Ihre Nutzung ist auf natürliche Weise mit den Zeiten intensiver Sonneneinstrahlung synchronisiert. Wenn die Schweiz einen grösseren Anteil ihres Energiemixes auf Solarenergie umstellt, wird dies einige der von mir erwähnten Netzprobleme mildern. Immobilieneigentümer werden Sonnenkollektoren zur gleichen Zeit wie Klimaanlagen installieren wollen, um ihre Betriebskosten zu senken. Das wird auch den Bedarf an Energiespeichern verringern, da der Strom direkt bei der Erzeugung verbraucht werden kann.
Da die Schweiz im Sommer einen Stromüberschuss hat, könnten wir den zusätzlichen Bedarf mit Solarenergie decken und somit «kostendeckend» arbeiten?
Das denken viele, denn die meisten von uns denken in Bezug auf die Nettoenergie. Aber die Systeme für Stromnachfrage und -versorgung funktionieren nicht auf einer aggregierten Ebene. Es muss genügend Strom verfügbar sein, um die Nachfrage sofort zu decken, sonst kommt es zu Stromausfällen. Deshalb müssen die Netzbetreiber entweder ein Nachfragesteuerungssystem oder ein Energiespeichersystem einsetzen, um Schwankungen bei Angebot und Nachfrage auszugleichen. Zurzeit steuern die Netzbetreiber die Nachfrage mit so genannten Primär-, Sekundär- und Tertiärreserven.
Könnte die Lösung darin bestehen, das Schweizer Stromnetz stärker zu dezentralisieren?
Auf jeden Fall. Das am 9. Juni verabschiedete Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung (Mantelerlass) zielt darauf ab, «Energiegemeinschaften» zu schaffen, in denen Gebäude den von ihnen erzeugten Strom je nach Bedarf untereinander austauschen und so möglicherweise ihren gesamten Bedarf selbst decken. Es gibt bereits Technologien, die sich mit der Synchronisierung von Angebot und Nachfrage befassen und gleichzeitig die oben beschriebenen Netzbeschränkungen einhalten. Zweifellos werden überall in der Schweiz Energiegemeinschaften entstehen, die ihren eigenen Strom produzieren und verwalten – nicht nur für Klimaanlagen, sondern auch für Heizungen und Elektrofahrzeuge – und das nationale Stromnetz entlasten. Ganz allgemein müssen wir jedoch die Stromnachfrage besser steuern, um die Auswirkungen auf unser Netz und unsere Energiereserven abzumildern.
Ausserdem stellt sich die Frage, wie die Kosten zwischen Stromerzeugern, Stromverbrauchern und Stromnetzbetreibern verteilt werden.
Wir verfügen heute über die Technologie, um den Auslastungsgrad eines Netzes auf der Grundlage des Leistungsflusses zu berechnen. Dies kann zum Beispiel mit ortsabhängigen Grenzpreisen geschehen. Wir arbeiten an einem Projekt mit dem Lausanner Elektrizitätswerk, um mit dieser Form der Preisgestaltung den Nutzen für alle Teilnehmenden eines bestimmten Marktes zu maximieren und gleichzeitig die Leistung des Stromnetzes zu verbessern. Es geht darum, den besten Weg zu finden, um die Investitions- und Betriebskosten für eine ganze Gemeinschaft zu senken. In der Theorie haben wir die Antworten, aber es fehlt uns der richtige Rechtsrahmen, um sie umzusetzen. Ein Projekt mit dem Lausanner Elektrizitätswerk soll eine Möglichkeit unter realen Bedingungen testen.