Wie das Gehirn die Bewegungen des Körpers kontrolliert 

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben bisher unbekannte neuronale Module im Gehirn identifiziert, die Bewegungen steuern und sich beim Erlernen von Fähigkeiten anpassen. Ihre Ergebnisse stellen lang gehegte Vorstellungen darüber in Frage, wie das Gehirn Bewegung organisiert.
© 2025 EPFL

Seit fast einem Jahrhundert wissen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass verschiedene Teile der menschlichen Gehirnrinde unterschiedliche Körperbewegungen steuern. Diese grundlegende Entdeckung geht auf die 1930er Jahre zurück, als Neurochirurgiefachleute mit Hilfe elektrischer Stimulationen aufzeichneten, wie verschiedene Kortikalregionen mit verschiedenen Körperteilen korrespondieren.

Aber lassen sich diese Regionen weiter in noch kleinere funktionelle Komponenten aufteilen? Forschende vermuten seit langem, dass die kortikalen Einheiten für bestimmte Körperbewegungen komplexer sind als einfache Flecken im Kortex. In Studien wurden verschiedene Arten von Neuronen identifiziert, die in mehreren Schichten über den Neokortex gestapelt sind, ohne jedoch ein klares Bild davon zu haben, wie diese Neuronen zusammenwirken, um eine bestimmte Bewegung auf der Ebene von Gehirnnetzwerken zu erzeugen.

Eine neue Studie der EPFL, der University of Cambridge und der Kumamoto University hat mit Hilfe fortschrittlicher optischer und genetischer Techniken gezeigt, dass eine Bewegungseinheit im Neokortex verschiedene neuronale Module enthält, die jeweils in verschiedenen Bereichen lokalisiert sind, die klassischerweise der Planung, Ausführung und Wahrnehmung von Bewegungen zugeordnet werden. Noch wichtiger ist, dass sich diese Module beim Erlernen von Fertigkeiten verändern und anpassen, was einen neuen Rahmen für das Verständnis dafür bietet, wie das Gehirn die motorische Kontrolle verfeinert.

Die Studie wurde von Keita Tamura, Pol Bech und Carl Petersen am Brain Mind Institute der EPFL geleitet. Keita Tamura hat auch Beiträge von der University of Cambridge und der Kumamoto University beigesteuert. Die Studie wurde in Current Biology veröffentlicht.

Horizontales Netzwerk vs. vertikale Spalten

Die Forschenden untersuchten die Bewegungskontrolle bei Mäusen, indem sie Optogenetik (eine Technik zur Steuerung der neuronalen Aktivität mit Licht), kortikale Hochgeschwindigkeits-Bildgebung und auf maschinellem Lernen basierende Bewegungsverfolgung kombinierten. Dieser Ansatz ermöglichte es ihnen, selektiv verschiedene Arten von Neuronen zu aktivieren und zu beobachten, wie die daraus resultierenden Signale durch das Gehirn wanderten, um Bewegungen hervorzurufen.

Um zu prüfen, ob sich die räumlich ausgedehnte Bewegungseinheit des Kortex in kleinere Elemente aufteilen lässt, kartierten die Forscher zunächst, wo erregende kortikale Neuronen insgesamt die Mundbewegungen steuern. Dann stimulierten sie selektiv verschiedene Neuronentypen.

Die Ergebnisse waren überraschend: Anstatt gleichmässig verteilt zu sein, steuern verschiedene Arten von Neuronen die Bewegung von verschiedenen, deutlich unterscheidbaren Unterregionen innerhalb der grossen Bewegungseinheit aus. Diese Unterregionen bilden ein horizontales Netzwerk spezialisierter Module, was die traditionelle Ansicht in Frage stellt, dass der Kortex in vertikalen Spalten organisiert ist –  die Vorstellung, dass verschiedene Arten von Neuronen vertikal von der Oberfläche des Gehirns bis zu seinen tieferen Schichten gestapelt sind und als Verarbeitungseinheiten fungieren.

Stattdessen legt die Studie nahe, dass eine kortikale Bewegungseinheit eine horizontal verteilte und modulare Organisation aufweist, bei der neuronentypspezifische Module dynamisch über verschiedene Regionen des Kortex hinweg interagieren.

Das Gehirn vernetzt sich neu und passt sich an

Bei der Untersuchung der Mundbewegungen von Mäusen stellten die Forscher beispielsweise fest, dass es innerhalb der grossen kortikalen Einheit, die die Mundbewegungen steuert, kleinere Gruppen von Neuronen gibt, die jeweils aus einer bestimmten Art von Neuronen bestehen. Und obwohl jede Art von Neuronen gleichmässig verteilt ist, bilden sie funktionelle Cluster in verschiedenen kortikalen Regionen, die an der Planung, Ausführung oder Wahrnehmung von Bewegungen beteiligt sind. Tatsächlich floss die Aktivität in diesen Clustern bei der Ausführung von Bewegungen stets in Richtung einer dieser Kortikalregionen.

Dies stellt die Vorstellung in Frage, dass das Gehirn Bewegungen in sauberen, vertikalen Spalten verarbeitet. Stattdessen deutet die Studie auf ein flexibleres und horizontal vernetztes System hin, in dem verschiedene Neuronengruppen für eine bestimmte Funktion zusammenarbeiten.

Ausserdem fanden die Forschenden heraus, dass sich einige dieser Module in andere kortikale Bereiche ausdehnten, wenn die Mäuse neue motorische Fähigkeiten erlernten. Dies deutet darauf hin, dass beim Erlernen von Fähigkeiten die Verbindungen zwischen diesen neuronalen Modulen neu verdrahtet werden. Mit anderen Worten: Das Gehirn wird nicht einfach «besser» in einer Bewegung –  es reorganisiert sich, um die Kontrolle zu optimieren.

Diese Entdeckung hat weitreichende Auswirkungen. Wenn man versteht, wie motorische Einheiten strukturiert sind und wie sie sich beim Lernen verändern, könnte dies Forschenden helfen, bessere Behandlungen für Krankheiten wie Schlaganfälle oder Hirnverletzungen zu entwickeln. Wenn die Wissenschaftlerinnen aufzeigen können, wie ein Netzwerk der Module ihre Funktion kompensieren kann, wenn eines der Module seine Funktion verliert, könnten sie beispielsweise effizientere und präzisere Rehabilitationstherapien entwickeln, die möglicherweise die verlorene motorische Funktion wiederherstellen.

Weitere Informationen

Finanzierung

  • Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF)
  • Die Königliche Gesellschaft
  • Forschungsstiftung für Opto-Wissenschaft und Technologie
  • Ichiro Kanehara Stiftung
  • Japanische Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaft
  • Brain Science Stiftung
  • Marie Skłodowska-Curie-Maßnahmen der Europäischen Union
  • Core-to-Core Programm Advanced Research Networks (Japanische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft)

Referenzen

Keita Tamura, Pol Bech, Hidenobu Mizuno, Léa Veaute, Sylvain Crochet, Carl C.H. Petersen, Cell class-specific orofacial motor maps in mouse neocortex, Current Biology 26 Februar 2025