Von der ETH in die Klinik: Medizinische Forschung braucht Zusammenarbeit
Was antworten Sie, wenn jemand an einer Medizin-Tagung fragt, was forscht die ETH Zürich eigentlich in der Medizin?
Christian Wolfrum: Wir forschen an neuen Lösungen für reale Fragen, die sich aus dem Klinikalltag und der Patientenversorgung ergeben und entwickeln Technologien, die sowohl für grundlegende Fragen der medizinischen Forschung als auch in der klinischen Anwendung relevant sind. Daran beteiligen sich die Bio- und Naturwissenschaften und die Daten- und Ingenieurwissenschaften.
Welche Rolle spielt die ETH in der Medizin?
Die Medizin ist eine angewandte Disziplin. Der Fokus der Ärztinnen und Ärzte liegt in erster Linie auf der Behandlung der Patientinnen und Patienten. Mit Blick auf personalisierte Diagnosen oder Therapien, die durch neue Technologien und datenwissenschaftliche Erkenntnisse getrieben werden, sind die technischen Hochschulen folglich gefragte Forschungspartner für universitäre und kantonale Spitäler. Gleichzeitig wissen die Medizinerinnen und Mediziner am besten, welche Probleme im klinischen Alltag noch ungelöst sind. Daraus ergibt sich die Forschungszusammenarbeit.
Wie gut funktioniert die Schnittstelle zwischen Medizin und ETH-Forschung?
Der Schlüssel liegt im gegenseitigen Verständnis. Wenn Forschende und Medizinerinnen und Mediziner zusammen eine neue Technologie entwickeln, lassen sie sich auf einen langen, iterativen Prozess ein. Das setzt gleichwertige Partner voraus, die einander vertrauen. Das Ziel ist es, die Silos auf beiden Seiten aufzubrechen und gemeinsam Strategien zu erarbeiten, um die identifizierten Probleme zu lösen, zum Nutzen der Patientinnen und Patienten, der Wissenschaft und der Gesellschaft im Allgemeinen. Im ETH-Bachelorstudiengang bilden wir Medizinerinnen und Mediziner mit vertieftem naturwissenschaftlichem und technischem Verständnis aus – da steht die Schnittstelle sozusagen im Mittelpunkt. Damit befähigen wir unsere Studierenden von heute, dass sie die notwendigen Brücken von morgen bauen.
Als die ETH 2017 das Bachelor-Studium in Humanmedizin einführte, wurde dies nicht überall begrüsst.
Das ist heute anders. Die Spitäler schätzen die Zusammenarbeit in der Lehre und in der Forschung. Die grösste Herausforderung sehe ich weniger bei den Lehr- und Forschungskooperationen an sich als bei den Rahmenbedingungen, also vor allem im juristischen und regulatorischen Bereich.
Weshalb?
Wir benötigen dringend Rahmenverträge für den Austausch zwischen Forschung und Klinik. Individuell funktioniert die Zusammenarbeit sehr gut. Jedoch macht zurzeit jede Professur mit jedem klinischen Partner einen eigenen Vertrag. Das ist sehr aufwändig und kann mancher Kooperation im Weg stehen. Ein Rahmenvertrag kann den Prozess enorm vereinfachen, da er die Grundprinzipien der Zusammenarbeit regelt. Zudem enthält er Vorlagen für einfache, projektbezogene Forschungs-Vereinbarungen, um den Forschenden die Zusammenarbeit zu erleichtern.
Die ETH Zürich arbeitet mit verschiedenen Partnerspitälern und Kliniken zusammen. Wie wählt sie diese aus?
Die ETH als Institution spielt bei dieser Auswahl keine Rolle. Es sind die Forschenden, die sich ihre Partnerinnen und Partner in den Kliniken aussuchen. Die Basis dafür bildet ein gemeinsames Forschungsinteresse. Wenn ich als Vizepräsident für Forschung dann feststelle, dass viele unserer Forschenden mit einem bestimmten Spital zusammenarbeiten, dann schauen wir uns das genauer an. Die ETH ist Teil des Netzwerks Universitäre Medizin Zürich (UMZH), die gemeinsam mit der Universität Zürich und den universitären Spitälern die Aktivitäten in der Medizin am Standort Zürich koordiniert – auch das schafft einen guten Rahmen für gemeinsame Forschungsprojekte und die Anwendung von Forschungsergebnissen in den Kliniken. Wir arbeiten mit dem Kantonsspital Baden (KSB) und der Schulthess Klinik zusammen und sind in engem Austausch mit weiteren Spitälern für eine vertraglich geregelte Zusammenarbeit.
Sind auch Verträge mit Spitälern im Ausland vorgesehen?
Ja, mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin zum Beispiel bestehen zahlreiche Forschungskooperationen und -projekte. Sie zählt zu den grössten und forschungsstärksten Universitätskliniken Europas. Mit ihr haben wir 2024 eine externe Seitestrategische Kooperation vereinbart. Als Schweizer Forschungsinstitution braucht die ETH internationale Partner in der Medizin. Dies gilt ganz besonders für Forschungsprojekte auf klinischen Daten. Um Therapien zuverlässig zu personalisieren, sind Millionen medizinischer Daten erforderlich. Diese Datenmengen haben wir in der Schweiz nicht. Deswegen sprechen wir auch mit dem Mount Sinai Hospital in New York. Dieses Spital hat fast 2 Millionen Patientinnen und Patienten. Das ist ein Viertel mehr als alle Spitäler in der Schweiz zusammen haben.
Sie sprechen es an: Die Forschung zur personalisierten Medizin ist auf enorme Datenmengen angewiesen. In der Schweiz klemmte der Datenaustausch zwischen Spitälern und Forschenden lange an technischen und regulatorischen Hürden. Wie sieht die Situation heute aus?
Auch wenn sie noch nicht ganz am Ziel ist, hat die Schweiz in den vergangenen Jahren doch erhebliche Fortschritte erzielt, um medizinisch relevante Daten zu digitalisieren und damit auch für die Forschung nutzbar zu machen. Das ist auch ein Verdienst der zwei grossen Initiativen für die personalisierte Medizin: des Swiss Personalized Health Network (SPHN) der Schweizerischen Akademie für Medizinische Wissenschaften und des Personalized Health and Related Technologies (PHRT) des ETH-Bereichs.
Inwiefern haben die beiden Netzwerke die Datengrundlagen für die personalisierte Medizin in der Schweiz verbessert?
Die Initiativen haben Dateninfrastrukturen und Technologien aufgebaut, die es Forschenden sowie Klinikerinnen und Klinikern ermöglichen, gemeinsam medizinische Daten zu nutzen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und personalisierte Diagnosen und Therapien zu entwickeln. Namentlich für die vier Forschungsthemen «Infektiöse Krankheiten in der Intensivmedizin», «Onkologie», «Pädiatrie» und «Versorgungsforschung» wurden gemeinsame Dateninfrastrukturen – so genannte National Data Streams – geschaffen. Sie unterstützen die Zusammenarbeit zwischen Forschung und Klinik erheblich. Für die ETH Zürich ist die Beteiligung an solchen Netzen ein grosser Gewinn. Wie auch die Beteiligung im Netzwerk Universitäre Medizin Zürich (UMZH) oder bei The LOOP Zurich, dem Forschungszentrum für personalisierte Medizin, das die ETH mit der Universität Zürich und den universitären Spitälern gegründet hat.
Am ersten «Medicine Day» der ETH Zürich von Anfang September haben Sie angekündigt, dass ein ETH-Zentrum für medizinische Forschung und humane Gesundheit geplant wird. Was versprechen Sie sich davon?
Wir haben an der ETH rund 160 Professorinnen und Professoren, die im Bereich Medizin und Gesundheit forschen. Das ist fast ein Drittel aller Professuren. Wir wollen eine koordinierende und katalysierende Struktur aufbauen, um die Grundlagenforschung, die Technologieentwicklung, die Translation und die Innovation in der Medizin zu beschleunigen. Auf jeden Fall soll sich die Geschwindigkeit weiter erhöhen, mit der das Wissen aus der Forschung an der ETH in die klinische Praxis gelangt – das wäre ein Riesengewinn.
Wie soll ein solches Zentrum diese Synergien erzielen?
In der Medizin stehen die verschiedenen Projekte und Initiativen immer wieder vor vergleichbaren Herausforderungen, wenn es um Datentransfer, gesetzliche Rahmenbedingungen, Ethik oder Kommunikation geht – da kann ein Zentrum eine Anlaufstelle für all diese Anliegen sein. Als Vizepräsident für Forschung ermögliche ich die nötigen Strukturen. Welche Aufgaben das vorgesehene Zentrum jedoch konkret wahrnehmen wird, wird derzeit zusammen mit den beteiligten Professorinnen und Professoren und den bereits bestehenden Initiativen in der medizinischen Forschung noch ausgearbeitet und diskutiert– Die endgültige Entscheidung über die Gründung eines neuen Zentrums liegt dann bei der ETH-Schulleitung.
Ist das Medizinzentrum ein erster Schritt für ein zukünftiges ETH-Medizindepartement?
Nein, ganz im Gegenteil. Es ist eine Stärke der ETH, dass die medizinische Forschung in die jeweiligen Departemente eingebunden ist und vom spezifischen Wissen der verschiedenen Fachgebiete profitieren kann. Medizin ist eine interdisziplinäre Disziplin. Dafür brauchen wir Strukturen, die die Departemente verbinden.
Sie selbst verlassen die ETH Zürich im Juni, um in die Leitung der Technischen Universität Nanyang in Singapur einzutreten. Was möchten Sie in der Medizin bis dann auf jeden Fall noch abschliessen?
Mein Ziel ist es, die Rahmenverträge mit unseren wichtigsten Partnern und das geplante Zentrum für medizinische Forschung und humane Gesundheit auf den Weg zu bringen. «Abschliessen» heisst auch nicht, dass die Entwicklung der ETH-Medizinforschung mit meinem Austritt aufhört – ihre Förderung durch die ETH in Zusammenarbeit mit den Partnern im Bildungs-, Forschungs- und Innovationssektor wird nahtlos weitergehen.