Pandemiebekämpfung in Afrika: Wenn Abstandsregeln keine Chance haben
Die Corona-Pandemie hat Menschen rund um den Globus vor Augen geführt, wie wichtig das eigene Verhalten ist, um die Ausbreitung von Krankheiten einzuschränken. Doch ist es überall auf der Welt überhaupt möglich, Abstandsregeln einzuhalten? Dieser Frage sind Forschende der ETH Zürich und des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts (Swiss TPH) in einem interdisziplinären Forschungsprojekt am Beispiel von Afrika nachgegangen.
Grosse nationale und regionale Unterschiede
Ihre Analyse zeigt: Oft fehlt es den Haushalten an einfachster Infrastruktur, die notwendig wäre, um Abstandsregeln einzuhalten. So müssen zum Beispiel Trinkwasser oder Toiletten häufig mit anderen Haushalten geteilt werden. Ausserdem leben Familien teilweise in einem einzigen Raum.
Zwischen den 34 Ländern, welche die Forschenden unter die Lupe genommen haben, gibt es allerdings grosse Unterschiede. Die Situation in Westafrika, wie etwa in Nigeria, ist deutlich herausfordernder als beispielsweise in Namibia. Aber auch innerhalb eines Landes unterscheidet sich die Lage stark von Region zu Region. So gibt es etwa in Südafrika einen grösseren Infrastrukturmangel in den nordöstlichen Regionen. Zudem fehlt nicht überall die gleiche Infrastruktur. Während in Benin viele Haushalte sanitäre Anlagen mit mehreren Haushalten teilen müssen, mangelt es in Äthiopien in erster Linie an privaten Transportmöglichkeiten. «Unsere Analyse zeigt, dass zur Pandemiebekämpfung nicht nur die Gesundheitssysteme ausgebaut und ein gerechterer Zugang zu Impfstoffen gewährleistet werden muss, sondern unbedingt auch mehr in private Infrastruktur investiert werden sollte», sagt Isabel Günther, ETH-Professorin für Entwicklungsökonomie und eine der Studienleiterinnen. Die Ergebnisse der Studie wurden heute in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht.
Bedarf an Infrastruktur korreliert nicht mit BIP
Dass die fehlende Infrastruktur nicht ausschliesslich ökonomische Ursachen hat, konnten die Forschenden ebenfalls aufzeigen. So korreliert der ermittelte «physical distancing index» (PDI), also der Mangel an Infrastruktur, um Abstandsregeln einhalten zu können, kaum mit dem Bruttoinlandprodukt (BIP) eines Landes. In Ghana beispielsweise ist das BIP vergleichsweise hoch, doch der Mangel an privater Infrastruktur deutlich grösser als in Mosambik, das ein wesentlich tieferes BIP hat.
Für ihre Analyse benutzten die Forschenden Daten aus Haushaltsbefragungen durch die jeweiligen nationalen Statistikinstitute. Insgesamt wurden 273 000 Haushalte befragt. Aus den Daten haben die Forschenden zunächst sechs Faktoren ermittelt, die für die Einhaltung von Abstandsregeln wichtig sind. Dazu zählt etwa die Anzahl der Bewohner:innen pro Zimmer, Trinkwasser im Haushalt oder der Besitz eines Mobiltelefons – um auch auf Distanz kommunizieren zu können. Zudem berücksichtigen die Forschenden die Bevölkerungsdichte. Mittels einer sogenannten Hauptkomponentenanalyse entwickelten sie anschliessend einen Index, der auf einer Skala von 0 bis 100 aufzeigt, wie schwer es für die Bevölkerung ist, den Kontakt mit erkrankten Personen zu meiden. Die Forschenden konnten zeigen, dass dieser Index stark mit den Corona-Fallzahlen innerhalb der Länder korreliert.
Eine hochaufgelöste Risikokarte gibt Aufschluss darüber, in welchen Gebieten eines Landes es am schwierigsten ist, Abstand zu halten und sich Krankheiten deshalb schneller ausbreiten. «Unsere Ergebnisse können Regierungen dabei unterstützen, zielgerichtet in bestimmten Regionen zu investieren und etwa Informations- und Impfkampagnen durchzuführen oder die fehlende Infrastruktur auszubauen und damit zur Pandemiebekämpfung und -prävention beizutragen», sagt Jürg Utzinger, Direktor des Swiss TPH und Mitautor. Drastische nationale Massnahmen wie die langfristige Schliessung von Schulen, die in vielen Ländern mit niedrigem Einkommen über die letzten zwei Jahre durchgeführt wurden, könnten so eventuell vermieden werden.
Studie lässt sich auf Asien und Südamerika übertragen
Die Berechnungen könnten auch ausserhalb Afrikas durchgeführt werden. «Solch eine Risikokarte kann man nun zum Beispiel auch für Indien, Bangladesch oder südamerikanische Gebiete relativ schnell erstellen», sagt ETH-Forscher Kenneth Harttgen, der massgeblich an der Studie beteiligt war. Für reiche Länder wie die Schweiz würde sie hingegen keinen Nutzen bringen, da die kritische private Infrastruktur im ganzen Land vorhanden ist. «Wenn Abstandempfehlungen hierzulande nicht befolgt werden, hat das andere Gründe», so Harttgen.