Energiestrategie 2050: Das Potenzial von Millionen von Schweizer Dächern

Fünf Millionen Dächer in der Schweiz – mehr als die Hälfte der landesweiten Gesamtfläche – sind für die Stromerzeugung geeignet. Eine Überprüfung von zwei Strategien zur Entwicklung der Photovoltaik hat gezeigt, dass die Kombination der beiden Ansätze dazu führen könnte, dass mehr als zwei Drittel der Schweizer Städte und Gemeinden energieautark werden.
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Im Rahmen der Energiestrategie 2050 strebt der Bund einen raschen Ausbau der Photovoltaik-Anlagen an. Im Jahr 2035 sollen 35 Terawattstunden (TWh) Strom aus erneuerbaren Energien (ohne Wasserkraft) erzeugt werden, im Jahr 2050 sogar 45 TWh. Wie können diese Ziele auf eine Weise erreicht werden, die sowohl effizient als auch für die einzelnen Städte und Gemeinden gerecht ist?

Es ist allgemein anerkannt, dass die Solarenergie eine Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung des Schweizer Energiemixes spielen wird. Aus diesem Grund ist das Energiepotenzial von Dächern seit langem ein Forschungsthema der Wissenschaftler des Labors für Solarenergie und Bauphysik (LESO-PB) der EPFL-Schule für Architektur, Bau- und Umweltingenieurwesen (ENAC).

Lage und Eignung von Dächern zur Erreichung des nächsten PV-Installationsziels entsprechend dem strategischen Ausbau für alle bewohnbaren Gebiete in der Schweiz. © 2023 EPFL / Alina Walch Martin Rüdisüli - CC-BY-SA 4.0

In ihrer Doktorarbeit hat Alina Walch das Potenzial erneuerbarer Energiesysteme untersucht. Dabei verfolgte sie einen interdisziplinären Ansatz, der Big Data mit maschinellem Lernen (oft allgemein als künstliche Intelligenz oder KI bezeichnet) kombiniert. In Zusammenarbeit mit Dr. Martin Rüdisüli, Experte für Energiesystemmodellierung an der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt (Empa) in Dübendorf, entwickelte und verglich sie zwei Szenarien für den Ausbau der Photovoltaik in der Schweiz, um die Ziele der Energiestrategie 2050 zu erreichen oder sogar zu übertreffen. «Wir haben die Forschung gemeinsam durchgeführt und dabei mein Wissen über die Modellierung der Photovoltaik und die Erfahrung von Martin Rüdisüli bei der Bewertung verschiedener Szenarien für den Ausbau dieser Energieform im Rahmen der Energiewende genutzt», sagt Walch.

Die EPFL beherbergt einen Solarpark von fast 16 000 m2 auf den Dächern und an den Fassaden der Gebäude.

Nach Norden ausgerichtete Dächer

Bevor sie Prognosen über das Solarstrompotenzial auf Schweizer Dächern im Jahr 2050 erstellen konnte, musste Walch zunächst eine Grundlage für ihre Schätzungen schaffen und einige Annahmen treffen. Welche Arten von Dächern sollte sie für ihr Modell berücksichtigen? Soll sie flexibel vorgehen und auch Dächer mit geringerer Sonneneinstrahlung oder mit Nordausrichtung einbeziehen? Zunächst entschied sie sich dafür, nur Dächer zu berücksichtigen, die ganz oder überwiegend nach Süden ausgerichtet sind: «Wir haben dann aber festgestellt, dass auch nach Norden ausgerichtete Dächer mit einem Neigungswinkel von weniger als 20 Grad für hochproduktive Solarstromanlagen in Frage kommen», erklärt Walch. Sie fügte also auch diese Dächer in ihr Modell ein - und ihre Schätzung des gesamten Solarstrompotenzials der Schweiz stieg um 25 %. «Wir haben das maximale Potenzial aller Schweizer Dächer berechnet», sagt Walch, «aber angesichts der tickenden Uhr stellt sich eine dringendere Frage: Welche Strategien sind nötig, um die Ziele des Bundes so schnell wie möglich zu erreichen?»

Diagramme zu den beiden untersuchten Strategien. Anzahl der Dächer, die erforderlich sind, um ein PV-Ausbauziel zu erreichen. © 2023 EPFL / Alina Walch Martin Rüdisüli - CC-BY-SA 4.0

Strategie 1. Vorrang für grosse, flache Dächer

Der Schlüssel zur effizienten Stromerzeugung liegt in der optimalen Nutzung der verfügbaren Dachfläche. Grosse, leicht geneigte Dächer – wie sie auf Industrie- und Landwirtschaftsgebäuden zu finden sind – bieten eindeutig das grösste Solarpotenzial. Entscheidend ist, dass es auf diesen Dächern nur wenige Oberlichter, Schornsteine und andere Aufbauten gibt und dass die Gebäude selbst in der Regel abseits von bebauten Gebieten liegen, so dass die Solarmodule weniger ins Auge fallen. Nach den Berechnungen von Walch würde die Installation von Fotovoltaikanlagen auf nur 4 % dieser Dächer die jährliche Stromerzeugung auf 15 TWh erhöhen. Darüber hinaus würde dieser Ansatz die Anzahl der einzelnen Anlagen auf ein Minimum reduzieren, was sowohl die Kosten als auch die Kohlenstoffemissionen senken würde. Und die Ausstattung von weiteren 2,5 Millionen Dächern mit Solarzellen wäre ein schneller und einfacher Weg, um das Ziel von 45 TWh für 2050 zu erreichen. Aber wie bei allen Dingen gibt es auch hier einen Nachteil: In städtischen Gebieten fehlt es an den notwendigen Dachflächen, um den Strombedarf zu decken, was bedeutet, dass die Vorteile ungleichmässig verteilt wären.

Strategie 2: Ausgewogene Stromerzeugung

Walch überlegte dann, wie man diese erste Strategie abwandeln könnte, um die Solarstromerzeugung regional ausgeglichener zu gestalten. Sie überlegte zum Beispiel, was passieren würde, wenn auf allen Dächern von Wohngebäuden Solarpaneele angebracht würden: «Wir haben Simulationen durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Strom jeder Bezirk erzeugen müsste, um autark zu werden», sagt sie. «Ländliche Städte könnten ihren Strombedarf leicht decken – ohne überhaupt ihr volles Potenzial ausschöpfen zu müssen.» Während diese zweite Strategie den Strombedarf auf regionaler Ebene besser decken würde, müssten auf 4 Millionen Dächern Solarzellen installiert werden, um die Ziele des Bundes zu erreichen.

Das EPFL-Rechenzentrum ist mit Fotovoltaik-Paneelen bedeckt. © 2024 EPFL/Alain Herzog - CC-BY-SA 4.0

Maximierung der Selbstversorgung

Angesichts des Klimawandels, der geopolitischen Ungewissheit und anderer globaler Probleme ist die Energieversorgungssicherheit zu einem wichtigen Anliegen geworden. Walch glaubt, dass die Antwort in der Stromerzeugung in der Nähe des Bedarfs liegt: «Unsere jüngste Analyse zeigt, dass die beste Option ein Kompromiss zwischen den beiden Strategien ist – eine, die das Potenzial sowohl von Industrie- als auch von Hausdächern nutzbar macht. Der ideale Ansatz besteht darin, zunächst die grössten Dächer in jeder Stadt mit Solarzellen zu bestücken, bis die Ziele erreicht sind. Sobald der Energiebedarf einer Stadt durch erneuerbare Energien gedeckt ist, sollten neue Anlagen nur noch begrenzt möglich sein.»

Förderung der Erzeugung in der Nähe des Strombedarfs. © 2024 EPFL/Alain Herzog - CC-BY-SA 4.0

Schweizer Daten zur erneuerbaren Energie

Daten aus dem Projekt HyEnergy des Nationalen Forschungsprogramms 75 «Big Data» (NFP 75), das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützt wird, sind auf der Plattform HyEnergy Data frei zugänglich. Diese Daten umfassen das jährliche Energiepotenzial von (i) PV-Solarkraftwerken auf Gebäudedächern, (ii) Windturbinen und (iii) erdgekoppelten Wärmepumpen für die Schweiz. Sie stützen sich auf Primärdaten, die von Schweizer Bundesämtern (SwissTopo, BFS, BFE) gesammelt wurden, sowie auf digitale Bilder von Satelliten und Fernerkundungsdaten. Ihre Analyse basiert auf fortschrittlichen statistischen Methoden und maschinellem Lernen. Weitere Informationen finden Sie auf der NFP75-Webseite.