Ökologie als Leitdisziplin der Zukunft
Das Artensterben ist zu einem der grössten globalen Risiken geworden. Das haben inzwischen auch die internationale Politik und Wirtschaft erkannt. An der Weltnaturkonferenz in Montreal haben die Staaten heute ein globales Abkommen und dringend nötige neue Ziele für die Biodiversität vereinbart.1 So sollen unter anderem bis 2030 mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresflächen unter Schutz gestellt werden. Das ist ein wichtiger Meilenstein für den Artenschutz und ein bedeutendes Signal an die Menschen. Es wird aber nicht reichen.
Biodiversität ist das Fundament für Lebensqualität, Gesundheit, ein gut funktionierendes lokales Klima, eine ökologische Landwirtschaft und viele weitere lebensnotwendige Funktionen unserer Landschaften. Es muss daher gelingen, die gesamte genutzte Landschaft ökologisch zu regenerieren. Dafür braucht es einen Wandel hin zu einer ökologischen Wirtschaft, die Naturkapital vermehrt anstatt es zu vernichten. Das ist möglich, wenn die Wirtschaft auf naturbasierte Lösungen setzt.
Mit der Natur statt gegen sie
Naturbasierte Lösungen spannen mit der Natur zusammen, generieren Wertschöpfung und kommen – sofern gut durchdacht – der Biodiversität, dem Klima und der menschlichen Gesundheit zugute. Sie sind multifunktional und können sich selbst erhalten. Das macht sie oft anpassungsfähiger, widerstandsfähiger und im Unterhalt günstiger als technische Lösungen.
Regenerieren wir Wälder, Moore, Flüsse und Böden, fördern wir die Artenvielfalt und sichern uns wertvolle Dienste. Ökosysteme senken Treibhausgase und dämpfen die Folgen des Klimawandels.2 Sie nehmen rasch viel Regenwasser auf und gleichen das regionale Klima aus, indem sie hohe Temperaturen und Trockenheit puffern.3
Ökologische Landwirtschaft produziert Nahrungsmittel mit der Hilfe von biologischer Vielfalt auf dem Feld – von diverseren Kulturen über Nützlinge bis hin zu Mikroorganismen im Boden. Agroforstsysteme kombinieren Bodenkulturen mit Bäumen und bringen ganze Artgemeinschaften ins Agrarland zurück. Das macht das System widerstandsfähiger.
In Städten zeigen sich die Vorteile einer grünen Infrastruktur besonders deutlich: Die Vegetation reinigt die Luft und kühlt das Stadtklima, weil unversiegelte Böden Regenwasser speichern und für die Verdunstung bereitstellen. Grünanlagen bieten Raum für Erholung und erhöhen die Gesundheit und Lebensqualität der Menschen.
Fortschritt dank Ökologie
Die interdisziplinäre Stadtforschung ist aktuell ein spannendes Feld für naturbasierte Lösungen. Planer:innen, Architekt:innen und Ingenieur:innen arbeiten mit Ökolog:innen zusammen, um Städte unter Einbezug von Natur klimatauglich und generell zukunftsfähig zu machen.4
Dazu gehören auch «biobasierte» Baumaterialien wie Lehm, Holz, Bambus, Stroh, lebende Pflanzen oder Pilzgeflechte.5 Sie sind wiederverwendbar, speichern CO2 und bergen das Potenzial für klimaneutrales Bauen in einer künftigen Kreislaufwirtschaft. «Regeneratives Design» denkt über sich selbst erneuernde Gebäude nach, die zudem abbaubar sind und als Teil der natürlichen Stoffkreisläufe die Stadtnatur oder nachwachsendes Baumaterial ernähren.
Diese Visionen illustrieren, wie der ökologische Ansatz zu radikal neuen Ideen führen kann. Naturbasiert blickt nicht nostalgisch zurück, sondern bietet Perspektiven für die Welt von morgen.
Auch eine dringend nötige Agrarwende wird nur gelingen, wenn wir auf den Prinzipien der biologischen Vielfalt aufbauen. Die moderne Biodiversitätsforschung hat zum Beispiel aufgezeigt, dass Mischkulturen produktiver sind als Monokulturen.6 Aufgrund von fundiertem ökologischem Wissen kann eine Landwirtschaft entstehen, welche verlorene Naturqualitäten wiederherstellt und neue Produktionssysteme erfindet: Welche Pilze und Mikroben können degradierte Böden am besten regenerieren? Wie gewinnen wir verlorene Naturleistungen wie Bestäubung oder biologische Schädlingskontrolle wieder zurück? Welche Rolle werden Insekten oder Algen als Proteinquellen für unsere Ernährung spielen?
Als Gesellschaft mitbestimmen
Goldene Zeiten für technologischen Fortschritt ergeben sich immer dann, wenn eine durch Neugier angetriebene Grundlagenforschung auf ein gesellschaftliches Bedürfnis trifft. Im 20. Jahrhundert entstand so dank Durchbrüchen in der Physik und Chemie eine Wirtschaft, welche auf den Ingenieurwissenschaften und fossilen Energieträgern basiert. Aktuell erleben wir eine Partnerschaft zwischen Computerwissenschaften und Digitalisierung. Wir haben als Gesellschaft die Wahl, welche Forschung wir fördern, und können indirekt beeinflussen, welche Kompetenzen aufgebaut werden und welche Innovationen entstehen könnten.
Entsprechend hängt auch der Weg zu einer naturbasierten Ökonomie von der strategischen Ausrichtung der Hochschulen ab. Wollen wir als Gesellschaft unser Naturkapital erhalten oder vermehren, dann braucht es mehr ökologische Kompetenzen in der Forschung und Entwicklung und letztlich auf allen Ebenen der Gesellschaft.7
Das bedeutet für Hochschulen, dass sie in die ökologische Grundlagenforschung investieren, den Technologietransfer von naturbasierten Lösungen durch Ideen-Inkubatoren und Startup-Plattformen fördern, und ökologisches Wissen in alle Studiengänge und Weiterbildungskurse integrieren.
Die ETH Zürich hat mit der Nachhaltigkeit gezeigt, wie Fokussierung geht: Sie machte das Thema früh zu einem strategischen Schwerpunkt und verankerte es breit in Forschung, Lehre und auf dem Campus.8 Heute fliessen Prinzipien der Nachhaltigkeit in die Lehrinhalte aller Fachrichtungen ein. Ein ähnliches Querschnittsthema sehe ich in der Biodiversität.
Eine erfolgreiche Regeneration der natürlichen Lebensgrundlagen wird das Wissen aller Disziplinen erfordern. Sie wird aber nur gelingen, wenn die Ökologie zur Leitdisziplin unseres Wirkens wird. Die Biodiversitätskrise ist vor allem eine Krise der Wissensgesellschaft: Es fehlt an ökologischem Wissen, Werten und Handlungskompetenzen.