Die wundersame Welt der Lichtantennen

In der Evolution war die Entstehung von lichtempfindlichen Proteinen ein herausragender Schritt: Nur dank ihnen können wir sehen. Die Grossforschungsanlagen des PSI helfen, die letzten grossen Geheimnisse rund um diese aussergewöhnlichen Zellbestandteile zu lüften. Dabei haben die Forschenden noch ein weiteres Ziel: mithilfe der Lichtrezeptoren gezielt Prozesse in Zellen an- und abzuschalten.
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Ohne sie wäre die Welt für uns immer und überall schwarz. Dass wir den blauen Himmel betrachten, ein Buch lesen oder einen Actionfilm im Fernsehen verfolgen können – all das haben wir den Fotorezeptoren zu verdanken: Proteinen, die auf Licht reagieren.

Allen Lebensformen leisten solche Proteine unentbehrliche Dienste: Einzellige Algen etwa fühlen mit ihrer Hilfe, wohin es sich zu schwimmen lohnt; Pflanzen können sich dank dieser Moleküle der Sonne zuwenden. Viele Tiere und der Mensch wiederum nehmen Licht mit hoch entwickelten Organen, den Augen, auf und verarbeiten die Signale im Gehirn zu komplexen Eindrücken. Auch unsere innere Uhr stellen solche Lichtrezeptoren jeden Tag aufs Neue ein.

Das Prinzip ist dabei stets gleich: Die Proteine sind in die Membranen – fetthaltige Hüllen um die Zellen – integriert und wandeln Licht in ein biologisches Signal um. Der erste und essenzielle Schritt ihrer Aktivierung ist dabei stets das Umlegen eines Schalters von «Aus» nach «Ein». Aber wie genau führt die in einem Lichtstrahl gespeicherte Energie Änderungen im Fotorezeptor herbei, die am Anfang aller weiteren Reaktionen stehen? «Bisher hat noch niemand diese grundlegende Frage ergründet», erläutert Gebhard Schertler, Leiter des PSI-Forschungsbereichs Biologie und Chemie, der seit über 30 Jahren an Proteinen dieser Art forscht. Um dieses und weitere Rätsel zu knacken, untersuchen PSI-Forschende die Struktur der lichtempfindlichen Proteine und deren dynamische Umwandlungen.

Wie die Katze auf den Füssen landet

Die Schaltprozesse, die in unseren Augen ständig ablaufen, sind unglaublich schnell und dauern nur billiardstel Bruchteile einer Sekunde. Um solche blitzartigen Vorgänge zu ergründen, bedarf es ganz spezieller Forschungsanlagen, etwa den Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL, die Ende 2016 eingeweihte und damit jüngste Grossforschungsanlage am PSI. «Mit ihm heben wir die Strukturbiologie auf die nächste Ebene», erklärt Jörg Standfuss, Wissenschaftler im PSI-Labor für biomolekulare Forschung. Mit dem SwissFEL können die Forschenden eine Art ultrahochaufgelöstes Video von biochemischen Prozessen drehen, um einen Vorgang bis ins letzte Detail zu studieren. «So können wir wirklich voll und ganz verstehen, wie diese lichtempfindlichen Proteine arbeiten.»

Zu den wichtigsten natürlichen Lichtrezeptoren beim Menschen und bei Tieren gehört die Familie der Rhodopsine. Im menschlichen Auge sind diese Proteine Bestandteil der Stäbchenzellen, den Sinneszellen, die auf die Hell-Dunkel-Wahrnehmung spezialisiert sind.

Rhodopsine haben in ihrer Mitte ein kleines längliches Molekül fixiert: Retinal, einen Abkömmling des Vitamins A. Trifft Licht auf Retinal, absorbiert das Molekül die Energie und wandelt sich in eine andere Form um (siehe Grafik links). Dabei verändert Retinal seine dreidimensionale Gestalt, und das wiederum führt zu strukturellen Veränderungen im Protein. Das kann jetzt an andere Proteine in der Zelle binden, die sogenannten G-Proteine, was wiederum eine Kaskade von biochemischen und biophysikalischen Vorgängen in Gang setzt. An deren Ende steht beispielsweise die Wahrnehmung eines Lichtblitzes.

Valérie Panneels, Wissenschaftlerin im PSI-Labor für biomolekulare Forschung, will verstehen, wie die Strukturänderung des Retinals im Inneren des Proteins genau vonstattengeht. «Vergleichen wir Retinal mit einer Katze, die mit dem Rücken voran vom Baum fällt und am Ende auf ihren Füssen landet. Die Frage ist: Welche Zustände nimmt die Katze während ihres Falls ein, also während sie sich vom Rücken auf den Bauch dreht?» Schon bei der Katze ist der Vorgang so schnell, dass man ihn mit blossem Auge nicht beobachten kann. Erst recht beim Retinal: Zwischenzustände existieren nur für einige Billiardstel einer Sekunde.

Inzwischen weiss Panneels, dass die Retinal-Katze erst ihre Schulter dreht und danach den Bauch. Ein grosses Rätsel ist jedoch nach wie vor die Frage, warum die Umwandlung des Retinals im Auge so effizient verläuft. «Es ist eine der schnellsten und gerichtetsten Reaktionen, die in der Natur vorkommen», sagt Valérie Panneels. Allerdings ist die Reaktion nur dann so effizient, wenn das Molekül im Protein gebunden ist; nicht, wenn es frei in Lösung herumschwimmt.

Das Protein nimmt also starken Einfluss auf die Richtung der Reaktion – aber wie genau, ist der Wissenschaft nicht klar. «Wenn man diese Frage beantworten könnte, hätte sich der Bau des SwissFEL bereits gelohnt», sagt Standfuss. Mit diesem Wissen ergäben sich zahlreiche neue Möglichkeiten für weitere Forschung und Anwendungen in Medizin und Biologie.

Pumpen statt Sehen

Im Laufe der Evolution haben sich lichtempfindliche Proteine auch zu einem anderen Zweck gebildet als für das Sehen: Sie ermöglichten es Lebewesen erstmals, aus Sonnenlicht Energie zu gewinnen. Viele Bakterien und einzellige Algen etwa besitzen lichtbetriebene Pumpen in ihrer Zellmembran. Dabei handelt es sich um Proteine, die ihre Form bei Lichteinfall so verändern, dass sie Ionen, also kleine geladene Teilchen, aus der Zelle befördern oder in sie hinein. So können sich die Einzeller auf pH-Wert, Salzgehalt und andere Merkmale ihrer Umgebung einstellen.

Bacteriorhodopsin ist so eine lichtangetriebene Pumpe. Das Protein transportiert Protonen und kommt unter anderem bei Halobakterien vor, einer Gruppe einzelliger Mikroorganismen, die sich in extrem salzhaltigen Seen wohlfühlen. Auch wenn dieser Einzeller biologisch nicht nahe mit dem Menschen verwandt ist, so ist Bacteriorhodopsin dem menschlichen Rhodopsin doch gar nicht so unähnlich: Es bindet ebenfalls Retinal und ändert seine Form unter Lichteinwirkung. Allerdings bindet es nicht an G-Proteine und gehört – trotz des historisch bedingten gleichen Namens – zu einem anderen Typ von Protein, den mikrobiellen Opsinen. 2016 erstellte Jörg Standfuss erstmals einen Film von einem Pumpvorgang mit Bacteriorhodopsin. Im Jahr 2020 fing seine Gruppe dann den Pumpprozess einer weiteren lichtbetriebenen Pumpe in Aktion ein: der Natriumpumpe eines Meeresbakteriums.

«Das PSI ist dank des SwissFEL weltweit führend, was das Erforschen von Rhodopsinen und ihrer Strukturdynamiken angeht», sagt Przemyslaw Nogly, einst Postdoc bei Standfuss und jetzt Leiter einer eigenen Forschungsgruppe an der ETH Zürich. Nogly untersucht mit dem SwissFEL die Chloridpumpe Halorhodopsin, welche bei Halobakterien Chloridionen von aussen in die Zelle hineinbefördert. «Ganz besonders fasziniert uns dabei die Frage, wie die Energie des absorbierten Lichts dazu benutzt wird, um den Transport von Chlorid anzutreiben », erzählt Nogly. Auch zum Lüften dieses Rätsels hat der SwissFEL inzwischen beigetragen.

An und aus

Die natürlichen Lichtantennen zu verstehen, bringt nicht nur die Grundlagenforschung voran, sondern auch die sogenannte Optogenetik. Mit dieser Technik versuchen Forschende, lichtempfindliche Proteine als winzige Schalter in Tier- oder Menschenzellen einzubauen. Vorgänge in den Zielzellen liessen sich dann alleine über die Bestrahlung mit Licht ein- und ausschalten. Die Hoffnung: Das soll die Grundlage für ein breiteres Verständnis biologischer Prozesse in unserem Körper liefern und so den Weg zu neuen Therapien bahnen.

Anfang der 2000er-Jahre brachten Forschende in den USA und Europa erstmals gezielt einen Lichtrezeptor in Nervenzellen ein, um deren Aktivität zu kontrollieren (siehe Infografik Seite 16). Es handelte sich dabei um das Kanalprotein Channelrhodopsin aus einer Süsswasseralge. Das Erbgut für diesen Kanal wurde in die Nervenzellen von Ratten eingebracht, sodass diese Zellen in der Laborschale den Ionenkanal herstellten. Channelrhodopsin öffnete sich bei Bestrahlung mit blauem Licht und liess positiv geladene Ionen in die Zellen strömen, woraufhin die Zellen aktiviert wurden. Über solche neu eingebrachten Ionenkanäle lassen sich also Nervenzellen von aussen in Echtzeit mit Licht steuern.

«Wir arbeiten daran, optogenetische Proteine zu entwickeln, die quasi in jedem Organ einsetzbar sind. »      Valérie Panneels, Wissenschaftlerin im PSI-Labor für biomolekulare Forschung

Alle bisher entwickelten optogenetischen Werkzeuge haben aber einen grossen Nachteil, erklärt Valérie Panneels: Sie sind fast ausschliesslich in Nervenzellen einsetzbar. «Wir arbeiten nun daran, optogenetische Proteine zu entwickeln, die auch in anderen Zellen und für andere Funktionen einsetzbar sind – in jedem Organ quasi.» Das würde die Anwendungsmöglichkeiten der Technik drastisch vergrössern.

Ein ideales Ziel dafür ist die Familie der Rezeptoren, zu denen auch Rhodopsin gehört: sogenannte G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, GPCR abgekürzt. Man findet sie in fast jeder Zelle unseres Körpers; sie vermitteln zahlreiche Funktionen, vom Geruchsund Geschmackssinn über das Regeln der Herzfrequenz bis zum Einleiten einer Entzündungsreaktion. GPCRs sind daher auch äusserst wichtige Ziele für Wirkstoffe in der Medizin. Man schätzt, dass über ein Drittel aller derzeit zugelassenen Medikamente ihre Wirkung über diese Familie von Proteinen entfaltet.

Grosse Pläne

Gemeinsam mit einem schweizerisch-europäischen Forschungsteam will Gebhard Schertler in den kommenden Jahren die Grundlagen schaffen, um universell einsetzbare lichtsteuerbare Schalter zu entwickeln (siehe Infografik auf Seite 16). Zum Konsortium gehören Peter Hegemann von der Humboldt-Universität zu Berlin, Sonja Kleinlogel von der Universität Bern und Rob Lucas von der Universität Manchester in Grossbritannien.

Das Team will sogenannte chimäre Proteine erschaffen, die sich aus zwei Teilen zusammensetzen: einem lichtempfindlichen Kopf, der durch Licht ein und ausschaltbar ist, und einem Körper, der einen ganz bestimmten Prozess in der Zelle einschaltet. Rhodopsin von Wirbeltieren eignet sich für solche kleinen Schalter allerdings nicht, erklärt Gebhard Schertler. «Jedes Mal, wenn im menschlichen Auge ein Rhodopsin aktiviert wird, löst sich die Bindung zwischen Protein und Retinal. Um den Rezeptor wieder lichtempfindlich zu machen, muss er zunächst regeneriert werden.» Das geschieht in einer einlagigen Zellschicht in der Netzhaut. Dort wird das Protein mit einem Retinalmolekül wieder zu einem funktionsfähigen Lichtrezeptor vereint. «Unsere Lichtrezeptoren sind also immer nur einmal einsetzbar und müssen dann aufwendig regeneriert werden – ein recht kompliziertes System.»

In den Lichtrezeptoren von Tintenfischen, Insekten und vielen anderen Wirbellosen hingegen bleibt das Retinal ständig am Protein gebunden. Durch die Absorption eines zweiten Lichtstrahls wandelt sich der Rezeptor wieder in seinen Ursprungszustand zurück – und kann dann gleich den nächsten Lichtstrahl empfangen. Diese Art von Rhodopsinen – bistabil genannt – lässt sich immer wieder ein- und ausschalten. Kann man das Protein dann noch so verändern, dass es beispielsweise mit blauem Licht angeknipst, mit rotem ausgeknipst wird, hätte man den idealen Schalter.

Das Geheimnis der Springspinne

Bisher von der Wissenschaft recht wenig beachtet, stehen bistabile Lichtrezeptoren im Fokus des Forschungsprojekts. Als vielversprechender Kandidat hat sich das bistabile Rhodopsin aus der Springspinne Hasarius adansoni erwiesen, welches auf die Farbe Grün reagiert. Die nur sechs Millimeter kleine Spinne ist weltweit in Gewächshäusern verbreitet. Von ihren acht Augen sind zwei grosse direkt nach vorne gerichtet. Vier übereinander angeordnete Netzhautebenen in den vorderen Augen erlauben es der Spinne, den Standort einer Beute bis auf wenige Millimeter genau anzupeilen und diese im Sprung zu fassen.

«Das Rhodopsin der Springspinne ist im Gegensatz zu vielen anderen Rhodopsinen stabil, leicht zu kristallisieren und zu handhaben», sagt Schertler. Die Forschenden hoffen, dass dieses Protein die Suche nach lichtgesteuerten molekularen Schaltern vorantreibt. Auf lange Sicht eignet sich besonders auch das Protein Melanopsin. Es reguliert in speziellen Nervenzellen des Auges unseren Tag-Nacht-Rhythmus und ist ebenfalls bistabil. Allerdings ist es bisher noch niemandem gelungen, die Struktur von Melanopsin zu entschlüsseln, da es in Laborgefässen zu instabil ist.

Licht in Sicht

Sonja Kleinlogel von der Universität Bern hat bereits ein chimäres bistabiles optogenetisches Protein hergestellt: Es besteht als Kopf aus der Lichtantenne von Melanopsin und als Körper aus einem Rezeptor, den man in den Bipolarzellen des Auges findet. Er spielt eine wichtige Rolle dabei, das Signal aus der Netzhaut des Auges Richtung Gehirn weiterzuleiten. So schaffte es die Wissenschaftlerin mit einer optogenetikbasierten Gentherapie, erblindeten Mäusen einen grossen Teil ihres Sehvermögens zurückzugeben. Allerdings hat sie ihr optogenetisches Protein hauptsächlich über Versuch und Irrtum konstruiert. Ihre Methode lässt sich momentan nicht auf andere Rezeptoren übertragen.

«Wir müssen herausfinden, warum Sonja Kleinlogels Konstrukt funktioniert», sagt Gebhard Schertler. «Und wir müssen uns das Wissen aneignen, wie wir Proteine so verändern können, dass sie das tun, was wir wollen.» Mit der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS, dem SwissFEL und der Kryo-Elektronenmikroskopie (siehe Artikel «Cooler Newcomer » ab Seite 18) wollen die Forschenden bistabile Lichtrezeptoren und ihre Mechanismen in der Zelle erforschen und auf Basis dieser Erkenntnisse Prototypen für optogenetische Werkzeuge entwickeln.

Die Möglichkeiten sind enorm: Mit solchen lichtsteuerbaren Schaltern liessen sich beispielsweise höhere Gehirnfunktionen erforschen. «Die klassische Optogenetik verändert das Ionengleichgewicht in Nervenzellen – wir hingegen könnten Signalkaskaden im Gehirn aktivieren, das ist etwas völlig Neues», erklärt Schertler. Die Technik könnte eines Tages dabei helfen, psychische Störungen wie Depressionen und Schizophrenie besser zu verstehen und vielleicht sogar neue Medikamente dagegen zu entwickeln.

Gelingt es, G-Protein-gekoppelte Rezeptoren im Körper gezielt ein- und auszuschalten, würde das zudem zeigen, welche konkreten Funktionen ein Rezeptor hat. Bei der Entwicklung von Medikamenten liessen sich dadurch vor allem Nebenwirkungen minimieren.

Die Entwicklung von neuen lichtgesteuerten molekularen Schaltern ist dem Europäischen Forschungsrat (ERC) viel Geld wert: 2020 vergab er eine Fördersumme von 10 Millionen Euro an das europäische Verbundprojekt von Gebhard Schertler und seinem Team.

Sind die Grundlagen erst einmal gelegt, wird die Technik die Wissenschaftswelt erobern, glaubt Schertler fest. «Noch sind wir recht weit entfernt von einem Werkzeugkasten, wie es ihn bereits für die klassische Optogenetik gibt. Aber in einigen Jahren können wir viele Rätsel lösen – und ich denke, Hunderte von Laboren werden dann auch anfangen, solche universellen lichtempfindlichen GPCR-Schalter zu benutzen.»