Leben wir in Online-Blasen?
In den letzten zehn Jahren scheint die politische Polarisierung, gemessen am Wahlverhalten und an der allgemeinen Stimmung gegenüber den gegnerischen Parteien und ihren Anhängern, zuzunehmen.
Zahlreiche Forschungsarbeiten haben sich auf die Rolle des Internets als Treiber dieser Polarisierung konzentriert, insbesondere auf die Produktion von Inhalten wie Zeitungsartikel, Tweets, Reddit-Beiträge und andere. Dies vor allem, weil die Produktion von Inhalten leichter zu messen ist als deren Konsum.
Nun haben Forschende des Data Science Lab (dlab) der EPFL an der Fakultät für Informatik und Kommunikation zusammen mit Kolleginnen und Kollegen des MIT und der Mozilla Foundation die Surf- und Lesegewohnheiten von Zehntausenden von Personen analysiert, die ein Plugin für den Firefox-Browser verwenden. Auf diese Weise haben sie zum ersten Mal einen Einblick in die Polarisierung aus der Perspektive des Inhaltskonsums erhalten.
«Echokammern sind nichts Neues, aber die eigentliche Vervielfältigung dieser Meme findet online statt. Bislang hat sich die Polarisierungsforschung weitgehend auf die Produktion von Inhalten konzentriert, weil diese einfach gemessen werden können. Die Teilnehmergruppe von Firefox-Nutzenden war damit einverstanden, ihre Daten zu teilen. So wie manche Menschen Blut für das Gemeinwohl spenden, haben hier Menschen ihre Daten für das Gemeinwohl freigegeben», sagte der Leiter des Data Science Lab, Assistenzprofessor Robert West, und Hauptautor der Studie.
Es gab zwar schon früher kleinere Studien, in denen das Engagement auf unterschiedliche Weise gemessen wurde, aber diese neue Studie wurde in vivo durchgeführt, d.h. die Nutzenden gingen ihrem normalen Alltag nach, so dass die Forscherinnen und Forscher die Menschen in ihrer normalen Umgebung beobachten konnten. Im Gegensatz zu früheren Studien wurde bei dieser Untersuchung die Zeit gemessen, die die Nutzenden auf bestimmten Websites verbrachten und bestimmte Artikel lasen, und nicht, ob eine Nutzerin oder ein Nutzer eine Website besucht hatte oder nicht.
Diese zusätzlichen Daten lieferten neue Beweise für eine stärkere Polarisierung als in der Literatur bisher beobachtet worden war. Sie zeigen, dass sich die Menschen viel intensiver mit Artikeln beschäftigen, die ihrer politischen Überzeugung entsprechen und mehr Zeit mit Nachrichtenquellen verbringen, die sich mit ihren parteipolitischen Überzeugungen decken, als mit anderen Informationsquellen.
Die Untersuchung ergab ausserdem, dass die Polarisierung sowohl auf individueller als auch auf Bevölkerungsebene in drei verschiedenen Clustern vorherrschend ist. Diese bestehen aus links-, mittel- und rechtsgerichteten Filterblasen. Dabei handelt es sich um eine neue Beobachtung, denn bei früheren Ergebnissen standen die produzierten Inhalte stärker im Fokus als die konsumierten.
Schliesslich gingen die Forschenden der Frage nach, ob die Polarisierung des Nachrichtenkonsums allein auf die verzerrte Linkstruktur von Online-Nachrichtennetzwerken zurückzuführen ist oder ob auch die explizite Auswahl der Inhalte durch die Nutzenden hier Einfluss hat. «Kurz gesagt: Wir sehen, dass die Wahlmöglichkeiten der Nutzenden über die blosse Struktur des Webs hinausgehen. Früher sprach man über diese Polarisierung im Zusammenhang mit der Produktion von Inhalten, aber die Nutzenden suchen auch bei ihrem Konsum explizit nach polarisierenden Inhalten. Wir sind nicht nur Marionetten. Vielmehr tragen wir mit unseren bewussten Entscheidungen zur Polarisierung bei», bemerkte West.
Er vertritt die Ansicht, dass die zentrale Zusammenfassung von Nutzenden in Zukunft als Fokuspunkt oder neutrale Zone, in der verschiedene politische Seiten zusammenkommen und miteinander reden können, von entscheidender Bedeutung sein könnte. Eine Verhaltensänderung ist jedoch schwierig und für künftige Forschungen ist eine fachübergreifende Zusammenarbeit nötig.
«Wenn wir keine Möglichkeit haben, die Ausbreitung von mentalen Viren, Memen und schädlichen Inhalten zu messen, sind wir viel schlechter gerüstet, um sie zu bekämpfen, genau wie bei echten Viren. Die Psychologie spielt eine wichtige Rolle, aber Psychologinnen und Psychologen können ihrer Aufgabe nicht nachkommen, wenn sie nicht über solche Daten verfügen und die soziotechnischen Systeme, die dabei eine Rolle spielen, nicht wirklich begreifen. Gleichzeitig sind auch wir Computerfachleute nicht dazu in der Lage, wenn wir die menschliche Psychologie nicht verstehen. Das macht es anspruchsvoll, aber auch sehr lohnen, solche Projekte zu verwirklichen.»