Blue Brain baut Neuronen mit Mathematik
Santiago Ramón y Cajal, ein spanischer Arzt an der Wende zum 19. Jahrhundert, wird von den meisten als der Vater der modernen Neurowissenschaften angesehen. Er starrte jahrelang Tag und Nacht auf ein Mikroskop und war fasziniert von den chemisch gefärbten Neuronen, die er in menschlichen Hirngewebeschnitten fand. In mühevoller Handarbeit zeichnete er praktisch jede neue Art von Neuronen, auf die er stiess, mit nichts weiter als Stift und Papier. Als Charles Darwin des Gehirns kartierte er jedes Detail des Waldes von Neuronen, aus denen das Gehirn besteht, und nannte sie die «Schmetterlinge des Gehirns». Heute, 200 Jahre später, hat Blue Brain einen Weg gefunden, auf das menschliche Auge, den Stift und das Papier zu verzichten und nur Mathematik zu verwenden, um Neuronen automatisch in 3D als digitale Zwillinge zu zeichnen. Mit Hilfe der Mathematik können nun alle «Schmetterlinge des Gehirns» erfasst werden, so dass wir mit Hilfe von Computern alle Milliarden von Neuronen, aus denen das Gehirn besteht, nachbauen können. Das bedeutet, dass wir der Möglichkeit, digitale Zwillinge von Gehirnen zu erstellen, immer näher kommen.
Diese Milliarden von Neuronen bilden Billionen von Synapsen, über die die Neuronen miteinander kommunizieren. Diese Komplexität erfordert umfassende Neuronenmodelle und genau rekonstruierte, detaillierte Gehirnnetzwerke, um den gesunden und den kranken Zustand des Gehirns nachbilden zu können. Bisher wurden die Bemühungen, solche Modelle und Netzwerke zu erstellen, durch den Mangel an experimentellen Daten behindert. Doch nun haben Forschende des EPFL Blue Brain Project mit Hilfe der algebraischen Topologie, einem Teilgebiet der Mathematik, einen Algorithmus entwickelt, der nur wenige Beispiele benötigt, um eine grosse Anzahl einzigartiger Zellen zu erzeugen. Mit diesem Algorithmus – der Topologischen Neuronalen Synthese (TNS) – können sie effizient Millionen von einzigartigen neuronalen Morphologien synthetisieren.
Der TNS-Algorithmus ist von enormer Bedeutung für das schnell wachsende Gebiet der Computational Neuroscience, das zunehmend auf biologisch-realistische Modelle von der Einzelzelle bis hin zu grossen neuronalen Netzwerken angewiesen ist. Genaue neuronale Morphologien stehen im Mittelpunkt dieser Bemühungen, da sie unerlässlich sind für die Definition von Zelltypen, die Unterscheidung ihrer funktionellen Aufgaben, die Untersuchung struktureller Veränderungen im Zusammenhang mit kranken Hirnzuständen und die Ermittlung der Bedingungen, unter denen Hirnnetzwerke ausreichend robust sind, um die komplexen kortikalen Prozesse zu gewährleisten, die für ein gesundes Gehirn von grundlegender Bedeutung sind. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, detaillierte Gehirnnetzwerke genau zu rekonstruieren, um den gesunden und den kranken Zustand des Gehirns nachbilden zu können.
In einer in Cell Reports veröffentlichten Arbeit hat ein Team unter der Leitung von Lida Kanari den in Kanari et al. 2018 vorgestellten Topological Morphology Descriptor (TMD) angewandt, der dendritische Morphologien zuverlässig kategorisiert, um dendritische Morphologien aus allen Schichten und morphologischen Typen des Kortex von Nagetieren digital zu synthetisieren. Die Vorteile dieses topologiegesteuerten Ansatzes sind vielfältig, da der neue TNS-Algorithmus auf neue Zelltypen verallgemeinerbar ist, wenig Eingabedaten benötigt und keine Feinabstimmung erfordert, da er Merkmalskorrelationen erfasst.
Der TNS-Algorithmus, der durch die topologische Architektur der Dendriten gesteuert wird, erzeugt realistische Morphologien für eine grosse Anzahl verschiedener kortikaler neuronaler Zelltypen mit realistischen morphologischen und elektrischen Eigenschaften. Dies hat die schnelle digitale Rekonstruktion ganzer Hirnregionen aus relativ wenigen Referenzzellen ermöglicht, was die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen neuronalen Morphologien und Hirnfunktionen über verschiedene räumliche und zeitliche Skalen hinweg erlaubt und die Herausforderung unzureichender biologischer Rekonstruktionen angeht. Eine mehrstufige Validierung, die in der Arbeit dokumentiert wird, stellt sicher, dass die synthetisierten Zellen die Formen der rekonstruierten Neuronen in Bezug auf drei Modalitäten reproduzieren: 1. Ihre morphologischen Merkmale, 2. die elektrische Aktivität der einzelnen Zellen und 3. die Konnektivität des von ihnen gebildeten Netzwerks.
Lida Kanari erklärt: «Die Ergebnisse ermöglichen es Blue Brain bereits, biologisch detaillierte Rekonstruktionen und Simulationen des Mäusegehirns zu erstellen, indem Hirnregionen für Simulationen rechnerisch rekonstruiert werden, die die anatomischen Eigenschaften der neuronalen Morphologien nachbilden und die regionsspezifische Anatomie einschliessen. Wir gehen eines der grundlegenden Probleme der Neurowissenschaften an – den Mangel an experimentellen neuronalen Rekonstruktionen, da die topologische Synthese nur wenige Beispiele benötigt, um eine grosse Anzahl einzigartiger Zellen zu erzeugen. Mit dem TNS-Algorithmus können wir Millionen einzigartiger neuronaler Morphologien effizient synthetisieren (10 Millionen Zellen in wenigen Stunden).»
Erleichterung medizinischer Anwendungen
«Umfassende Neuronenmodelle sind unerlässlich, um Zelltypen zu definieren, ihre funktionelle Rolle zu erkennen und strukturelle Veränderungen zu untersuchen, die mit krankhaften Zuständen des Gehirns einhergehen», bekräftigt Prof. Henry Markram, Gründer und Direktor von Blue Brain. «Die Forschenden haben kortikale Netzwerke auf der Grundlage struktureller Veränderungen von Dendriten synthetisiert, die mit medizinischen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden, und Prinzipien aufgedeckt, die Verzweigungseigenschaften mit der Struktur grosser Netzwerke verbinden.»
«Da der TNS-Algorithmus in einer Open-Source-Software implementiert ist, wird dies die Modellierung von Gehirnerkrankungen in Bezug auf einzelne Zellen und Netzwerke ermöglichen, da er ein Werkzeug bietet, um die Verbindung zwischen lokalen morphologischen Eigenschaften und der Konnektivität des neuronalen Netzwerks, das sie bilden, direkt zu untersuchen. Dieser Ansatz ist von besonderem Interesse für medizinische Anwendungen, da er die Untersuchung von Krankheiten im Hinblick auf die Entstehung einer globalen Netzwerkpathologie aus lokalen strukturellen Veränderungen der Neuronenmorphologie ermöglicht», so Markram.