Künstliche Intelligenz zur Erforschung der biomolekularen Welt

EPFL-Forschende haben KI-gesteuerte Nanosensoren entwickelt, mit denen Wissenschaftlerinnen verschiedene Arten von biologischen Molekülen verfolgen können, ohne sie zu stören.
Unterwasseransicht einer aus Gold-Nanostäbchen bestehenden Meta-Oberfläche © Aurélian John-Herpin / 2021 EPFL

Die winzige Welt der Biomoleküle ist reich an faszinierenden Wechselwirkungen zwischen einer Fülle unterschiedlicher Agenten wie komplizierten Nanomaschinen (Proteine), formveränderlichen Gefässen (Lipidkomplexe), Ketten lebenswichtiger Informationen (DNA) und Energieträgern (Kohlenhydrate). Doch die Art und Weise, wie Biomoleküle zusammenkommen und interagieren, um die Symphonie des Lebens zu definieren, ist äusserst komplex.

Wissenschaftlerinnen des Bionanophotonic Systems Laboratory an der EPFL-Fakultät für Ingenieurwissenschaft und Technologie haben nun einen neuen Biosensor entwickelt, mit dem sich alle wichtigen Biomolekülklassen der Nanowelt beobachten lassen, ohne sie zu stören. Ihre innovative Technik nutzt Nanotechnologie, Metasurface, Infrarotlicht und künstliche Intelligenz. Die Forschungsergebnisse des Teams wurden gerade in Advanced Materials veröffentlicht.

«Wenn man sich statt der Infrarotfrequenzen Audiofrequenzen vorstellt, ist es, als ob jedes Molekül seine eigene charakteristische Melodie hat.»      Aurélian John-Herpin

In dieser Symphonie in Nanogrösse macht die perfekte Orchestrierung physiologische Wunder wie Sehen und Schmecken möglich, während sich leichte Dissonanzen zu horrenden Kakophonien verstärken können, die zu Pathologien wie Krebs und Neurodegeneration führen.

«Sich auf diese winzige Welt einzustellen und in der Lage zu sein, zwischen Proteinen, Lipiden, Nukleinsäuren und Kohlenhydraten zu unterscheiden, ohne ihre Wechselwirkungen zu stören, ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis von Lebensprozessen und Krankheitsmechanismen», sagt Hatice Altug, die Leiterin des Bionanophotonic Systems Laboratory.

Licht, genauer gesagt Infrarotlicht, ist der Kern des von Altugs Team entwickelten Biosensors. Der Mensch kann infrarotes Licht nicht sehen, da es jenseits des sichtbaren Lichtspektrums liegt, das von blau bis rot reicht. Wir können es jedoch in Form von Wärme in unserem Körper spüren, da unsere Moleküle unter der Anregung durch Infrarotlicht vibrieren.

Moleküle bestehen aus aneinander gebundenen Atomen und schwingen – abhängig von der Masse der Atome und der Anordnung und Steifigkeit ihrer Bindungen – in bestimmten Frequenzen. Dies ist vergleichbar mit den Saiten eines Musikinstruments, die in Abhängigkeit von ihrer Länge in bestimmten Frequenzen schwingen. Diese Resonanzfrequenzen sind molekülspezifisch, und sie treten meist im infraroten Frequenzbereich des elektromagnetischen Spektrums auf.

«Wenn man sich statt der Infrarot-Frequenzen Audio-Frequenzen vorstellt, ist es so, als ob jedes Molekül seine eigene charakteristische Melodie hat», sagt Aurélian John-Herpin, Doktorand in Altugs Labor und Erstautor der Publikation: «Allerdings ist es sehr schwierig, diese Melodien zu erkennen, denn ohne Verstärkung sind sie nur ein Flüstern in einem Meer von Geräuschen. Erschwerend kommt hinzu, dass ihre Melodien sehr ähnliche Motive aufweisen können, so dass es schwer ist, sie zu unterscheiden», so Altug.

Metasurfaces und künstliche Intelligenz

Die Forschenden lösten diese beiden Probleme mithilfe von Metasurfaces und KI. Metasurfaces sind künstlich hergestellte Materialien mit herausragenden Lichtmanipulationsfähigkeiten auf der Nanoskala, die Funktionen jenseits dessen ermöglichen, was sonst in der Natur vorkommt. Hier wirken ihre präzise konstruierten Meta-Atome aus Gold-Nanostäbchen wie Verstärker von Licht-Materie-Wechselwirkungen, indem sie die plasmonischen Anregungen anzapfen, die aus den kollektiven Schwingungen freier Elektronen in Metallen resultieren. «In unserer Analogie machen diese verstärkten Wechselwirkungen die geflüsterten Molekülmelodien hörbarer», sagt John-Herpin.

KI ist ein mächtiges Werkzeug, das mit mehr Daten gefüttert werden kann, als der Mensch in der gleichen Zeit verarbeiten kann, und das schnell die Fähigkeit entwickelt, komplexe Muster aus den Daten zu erkennen. John-Herpin erklärt: «Man kann sich KI wie einen absoluten Anfänger-Musiker vorstellen, der sich die verschiedenen verstärkten Melodien anhört und schon nach wenigen Minuten ein perfektes Gehör entwickelt und die Melodien auseinanderhalten kann, auch wenn sie zusammen gespielt werden – wie in einem Orchester mit vielen gleichzeitigen Instrumenten.»

«Wir stellen uns vor, dass unsere Technologie in den Bereichen Biologie, Bioanalytik und Pharmakologie Anwendung findet - von der Grundlagenforschung über die Krankheitsdiagnostik bis hin zur Medikamentenentwicklung.»      Hatice Altug

Wenn die Infrarot-Metasurfaces der Wissenschaftler mit KI erweitert werden, kann der neue Sensor zur Analyse biologischer Assays verwendet werden, die mehrere Analyten aus den wichtigsten Biomolekülklassen gleichzeitig enthalten und deren dynamische Wechselwirkungen auflösen.

«Wir haben uns insbesondere Lipidvesikel-basierte Nanopartikel angesehen und ihren Bruch durch das Einbringen eines Toxinpeptids und die anschließende Freisetzung von Vesikelladungen aus Nukleotiden und Kohlenhydraten sowie die Bildung von unterstützten Lipid-Doppelschicht-Patches auf der Metasurface beobachtet», sagt Altug.

Dieser bahnbrechende KI-gestützte, metasurface-basierte Biosensor wird spannende Perspektiven für die Untersuchung und Entschlüsselung inhärent komplexer biologischer Prozesse eröffnen, wie z. B. die interzelluläre Kommunikation über Exosomen und die Interaktion von Nukleinsäuren und Kohlenhydraten mit Proteinen bei der Genregulation und Neurodegeneration.

«Wir stellen uns vor, dass unsere Technologie in den Bereichen Biologie, Bioanalytik und Pharmakologie Anwendung finden wird - von der Grundlagenforschung über die Krankheitsdiagnostik bis hin zur Medikamentenentwicklung», sagt Altug.

Weitere Informationen

Finanzierung

Die Forschung, die zu diesen Ergebnissen führte, wurde vom Europäischen Forschungsrat (ERC) unter Grant Agreement #682167 (VIBRANT-BIO) und vom Horizon 2020 Rahmenprogramm für Forschung und Innovation der Europäischen Union unter Grant Agreement # 777714 (NOCTURNO) gefördert. Wir möchten auch dem Center of MicroNanoTechnology (CMi) der EPFL für die Bereitstellung von Mikro- und Nanofabrikationsmöglichkeiten danken.

Referenzen

DOI: 10.1002/adma.202006054