Die Ukraine hat durch den Krieg 18 % ihrer Forschenden verloren
Bis zum frühen Morgen des 24. Februar 2022 glaubte die ukrainische Wissenschaftlerin Olena Iarmosh nicht an eine russische Invasion in der Ukraine. Iarmosh war in Charkiw, ihrer geliebten Stadt in der Ostukraine und nur 40 km von der russischen Grenze entfernt, aufgewachsen und hatte sich dort niedergelassen, wo sie vor ihrer Flucht in die Schweiz mehr als 16 Jahre lang als Dozentin im Hochschulbereich tätig war. Gegen fünf Uhr morgens wachte sie durch die Geräusche der Bomben auf und hoffte, dass es sich lediglich um die lauten Geräusche der technischen Wartung des örtlichen Kraftwerks handelte.
«Meine Stadt sieht jetzt nach der Bombardierung schlimmer aus als nach zwei Besetzungen durch deutsche Truppen», sagt Iarmosh. Iarmosh blieb während der Bombardierung neun Tage lang in ihrer Wohnung, bevor sie nach Westen floh, zunächst in die Westukraine, bis auch dort die Bombardierung begann. Dann floh sie in die Schweiz, während sie ihre Lehrtätigkeit online fortsetzte, und fand schliesslich eine befristete Stelle an der EPFL bei Gaétan de Rassenfosse.
In der Zwischenzeit haben sich de Rassenfosse und sein Team daran gemacht, die Auswirkungen des Krieges auf die ukrainische Forschung zu quantifizieren. In einer der bisher umfangreichsten Umfragen wurden die Antworten von rund 2500 ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Herbst 2022 analysiert. Die Ergebnisse werden in Humanities and Social Sciences Communications veröffentlicht.
«Unsere Umfrage zeigt, dass die Ukraine fast 20 % der Spitzenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wie Olena verloren hat», erklärt de Rassenfosse vom College of Management of Technology der EPFL, der Iarmosh als Gastprofessor für sein Labor gewinnen konnte.
«Viele dieser emigrierten Forschenden haben prekäre Verträge an ihren Gastinstitutionen. Von den in der Ukraine verbliebenen Wissenschaftlern, sofern sie noch am Leben sind, haben etwa 15 % die Forschung verlassen, und andere haben angesichts der Kriegsumstände wenig Zeit, sich der Forschung zu widmen.»
Die EPFL-Forschenden stellten fest, dass die Forschungskapazität in der Ukraine, d. h. die Zeit, die direkt der Forschungstätigkeit gewidmet wird, um 20 % gesunken ist. Die Studie berichtet, dass 23,5 % der Forschenden, die sich noch in der Ukraine aufhalten, keinen Zugang zu wichtigen Ressourcen für ihre Forschung haben, und 20,8 % keinen physischen Zugang zu ihrer Institution. De Rassenfosse und sein Team betonen in der Studie, dass «die Bereitstellung von mehr und längeren Stipendien für Forschende mit Migrationshintergrund ein vorrangiges Anliegen ist». Für Wissenschaftlerinnen, die sich noch in der Ukraine aufhalten, schlägt die Studie vor, dass «Institutionen in ganz Europa und darüber hinaus eine Vielzahl von Unterstützungsprogrammen anbieten können, wie z. B. Programme für Fernbesuche, Zugang zu digitalen Bibliotheken und Computerressourcen sowie Zuschüsse für die Forschungszusammenarbeit».
«Aus rein akademischer Sicht kann ein Auslandsaufenthalt tatsächlich eine Chance sein, sich als Wissenschaftler zu verbessern, da unsere Umfrage zeigt, dass ein Auslandaufenthalt mit Neuem verbunden ist», so de Rassenfosse weiter.
Iarmosh, die jetzt mit einem befristeten Vertrag bei der UNIL arbeitet, lebt tagtäglich in der Schweiz und versucht, mit den Einschränkungen zu jonglieren, die sich aus den Verträgen mit den Arbeitgebern und ihrer befristeten schweizerischen Aufenthaltsgenehmigung ergeben: «In der Ukraine gab es für mich mit meinem Bildungsniveau viel mehr Möglichkeiten, aus denen ich wählen konnte. In der Schweiz bin ich weniger wählerisch, was den Job angeht, und weiss, dass jede Gelegenheit eine positive Erfahrung für mich sein wird.»
Iarmosh fährt fort: «Trotz des Krieges tut die Ukraine viel, um Forschende und Wissenschaftlerinnen zu beschäftigen. Das Bildungswesen im Osten und Süden der Ukraine ist vollständig online. Die ukrainischen Universitäten wollen uns weiterhin beschäftigen. Sie laden uns zu Aktivitäten ein, bitten uns um Supervisionen und die Fortsetzung der Forschung. Das ist ein grosses Privileg für alle Dozierdenden und Forschenden. Sie versuchen, die universitäre Ausbildung für die Jugend aufrechtzuerhalten.»
«Ganz allgemein zeigt unsere Studie, dass sich die ukrainischen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen immer mehr von der ukrainischen Wissenschaftsgemeinschaft abkoppeln, und das ist gefährlich für die Zukunft der Ukraine und der ukrainischen Forschung», warnt de Rassenfosse. «Die politischen Entscheidungsträger müssen die Erneuerung des ukrainischen Forschungssystems vorwegnehmen, damit die Forschenden zurückkehren und die nächste Generation ukrainischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausgebildet werden kann.»
«Ich bin die grösste Patriotin meiner Stadt», schliesst Iarmosh, «Charkiw ist schön, die Menschen, die Mentalität, die Architektur, sie ist sauber. Ich liebe Charkiw. Aber der menschliche Verlust ist kolossal. Körperlich und geistig starke, patriotische, aufgeschlossene Männer blieben zurück und kämpften für den Schutz der Ukraine. Wir können Gebäude wiederaufbauen. Es braucht viele Jahre, um eine neue Generation aufzubauen.»