Gender-Ungleichheiten in den Karrieren talentierter Absolventinnen
Von den mehr als 35 000 Alumni der EPFL sind etwas weniger als 7000 Frauen, das sind rund 20 % der Gesamtzahl. Dieser Anteil ist nach wie vor gering, auch wenn er in den letzten Jahren gestiegen ist – 2021 waren 68 % der Alumni unter 35 Jahre alt. Allerdings gibt es nach wie vor gravierende Unterschiede zwischen den verschiedenen Disziplinen der EPFL: Während der Frauenanteil unter den Absolvierenden der Life Sciences bei über 48 % liegt, sind es in der Elektrotechnik nur 9 % und im Maschinenbau 7 %. Die Mehrheit der Absolventinnen (64%) hört mit dem Master auf, während 24 % einen Doktortitel anstreben. Wie sehen die Karrieren dieser Frauen nach ihrem Abschluss aus? Um das herauszufinden, hat die Alumni-Abteilung der EPFL Ende 2020 erstmals eine Umfrage unter Absolventinnen durchgeführt. Der Fragebogen wurde an knapp über 5000 Frauen verschickt, von denen 768 geantwortet haben.
Eines wurde sofort klar: Die Alumnae der EPFL machen nach ihrem Abschluss das Beste aus ihren Diplomen. 92 % gaben an, dass sie eine oder mehrere bezahlte Tätigkeiten ausübten, während nur 6 % weder arbeiteten noch in der Forschung tätig waren. Diese Erwerbsquote übertrifft den Schweizer Durchschnitt. Laut dem Schweizer Bundesamt für Statistik (BFS) gehen 83 % der Frauen im erwerbsfähigen Alter einer bezahlten Tätigkeit nach. Ein weiterer aufschlussreicher Indikator ist, dass 41 % der EPFL-Alumnae im Alter von 25 bis 54 Jahren mindestens ein Kind haben und Vollzeit arbeiten – eine Zahl, die in der breiten Schweizer Bevölkerung nur 17 % beträgt. Diese Frauen arbeiten in einer Vielzahl von Branchen: 20 % in Bildung und Forschung, 16 % in Architektur, Design und Bauwesen, 17 % im Gesundheitswesen, 11 % in der Fertigung und 6 % in der Informatik.
Die Absolventinnen der EPFL gehen nach ihrem Abschluss vor allem in technische Bereiche und Berufe, in denen Frauen oft noch in der Minderheit sind. Und obwohl mehr als 80 % der befragten Alumnae angaben, dass sie mit ihrer beruflichen Position zufrieden sind, gibt es noch viele problematische Punkte. Ein wesentliches Karrierehindernis für Frauen ist, dass sie manchmal in unfreundlichen Umgebungen arbeiten müssen. Je nach Umfeld kann die Feindseligkeit verschiedene Formen annehmen, die von abfälligen oder stereotypen Bemerkungen bis hin zu völlig unangemessenem Verhalten reichen: «Wenn man in die Arbeitswelt eintritt, hat man viele Ambitionen», sagt Azalée Truan, die an der EPFL ein Architekturstudium absolviert hat und heute ihr eigenes Büro leitet. «Die Baustellen, auf denen ich gearbeitet habe, sind sehr männlich dominiert, und es ist schwer für eine Frau, mit einem Mann so unter vier Augen zu sprechen, wie es Männer untereinander tun.» Fast 50 % der Befragten glauben, dass ein unfreundliches Arbeitsumfeld ihre berufliche Entwicklung «etwas» oder «erheblich» behindert hat. Damit haben sie in der Regel schon vor ihrem Abschluss zu kämpfen, wie Manon Poffet, die 2020 ein Maschinenbaustudium an der EPFL absolviert, erzählt: «Ich wurde oft gefragt: 'Aber warum hast du dich für den Studiengang Ingenieurwissenschaften entschieden?' Ich hatte das Gefühl, dass männliche Studenten sich diese Frage nie stellen, sondern dass ich wegen meines Geschlechts ausgesondert wurde.»
Positiv zu vermerken ist auch, dass die EPFL-Alumnae in ihrer Karriere gut abgeschnitten haben. 32 % der Befragten arbeiten in leitenden oder geschäftsführenden Positionen, ein Prozentsatz, der bei Frauen zwischen 36 und 45 Jahren auf 48 % ansteigt. Liegt das an ihrem EPFL-gestempelten Diplom? Die Antwort scheint ja zu sein – laut BFS hatten im Jahr 2020 nur 37 % der Frauen in der gleichen Altersgruppe in der Schweiz eine Führungsposition inne. Dies deutet darauf hin, dass EPFL-Absolventinnen gut positioniert sind, um den Bedarf an einer stärkeren Vertretung von Frauen in bestimmten Berufen, insbesondere auf Führungsebene, zu decken. Anfang 2021 verabschiedete der Schweizer Bundesrat ein Gesetz, das vorschreibt, dass Frauen mindestens 30 % der Sitze in den Verwaltungsräten grosser börsennotierter Unternehmen besetzen und mindestens 20 % des oberen Managements ausmachen müssen.
Was die Vergütung betrifft, so gaben fast 54 % der Befragten an, mehr als 100 000 CHF pro Jahr zu verdienen. Auch hier sollten diese Zahlen mit der weiblichen Gesamtbevölkerung der Schweiz verglichen werden, deren Median-Jahresgehalt bei 78 143 CHF liegt, während die Alumnae der EPFL und ETH Zürich 112 879 CHF verdienen. Nichtsdestotrotz – und wie die BFS-Statistiken belegen – ist das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern in Schweizer Unternehmen immer noch ein Thema auf allen Ebenen.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist nach wie vor ein zentrales Thema, das die Karriere von Frauen beeinflusst. Von den Befragten gaben 41 % der Frauen ohne Kinder – und 88 % der Frauen mit Kindern – an, Kompromisse eingehen zu müssen. Diese können von der Reduzierung auf Teilzeitbeschäftigung bis hin zum kompletten Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt reichen. Die Kompromissbereitschaft scheint geschlechtsspezifisch verzerrt zu sein, da die Zahlen für Partner mit Kindern viel niedriger sind, von denen nur 61 % Kompromisse eingehen mussten. Das Jonglieren zwischen Karriere und Familienleben ist ein Thema, das Assia Garbinato, eine EPFL-Absolventin der Informatik und Chief Data Officer bei Romande Energie, besonders am Herzen liegt: «Das sind schwierige Entscheidungen, aber sie müssen respektiert werden. Frauen haben das Recht, Karriere zu machen, und sollten sich nicht dafür entschuldigen müssen.»
Obwohl Veränderungen in der Gesellschaft im Allgemeinen einige Lösungen für das Problem der Work-Life-Balance bieten – wie Vaterschaftsurlaub und besserer Zugang zu Kinderbetreuungseinrichtungen – bleibt die Ungleichheit innerhalb von Paaren ein grosses Thema. Mehr als 59 % der Umfrageteilnehmerinnen gaben an, dass ein Partner, der sie bei der Berufswahl unterstützt, ein entscheidender Faktor für die berufliche Entwicklung ist.
Auch die Unternehmenskultur spielt eine wichtige Rolle, und Arbeitgeber haben die Verantwortung, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das die Gleichstellung der Geschlechter fördert. Managerinnen und Teamleitende können hier einen großen Beitrag leisten – 76 % der befragten Alumnae nannten dies als wichtiges Kriterium, und einige gaben an, dass dies für ihre berufliche Entwicklung entscheidend sei. «Ein Thema, das Frauen oft ansprechen, ist der Bedarf an Unterstützung bei der Gewinnung von Selbstvertrauen», merkt Garbinato an: «Ich würde Frauen raten, sich vom 'Hochstapler-Syndrom' fernzuhalten – das kann ein echter Rückschlag sein. «Ein weiterer wichtiger Faktor ist der Mangel an aktiven, hochkarätigen Frauen in einigen Branchen – das schränkt die Zahl der Vorbilder ein, zu denen EPFL-Architektinnen und -Ingenieurinnen aufschauen können: Nur wenige Frauen gründen ihr eigenes Unternehmen», sagt Céline Arethens, eine EPFL-Mathematik-Absolventin und Unternehmerin in der digitalen Technologieberatung. «Manche Frauen bauen sich imaginäre Strassensperren auf. Wir müssen lernen, unsere Ängste zu überwinden und den Mut zu haben, uns selbständig zu machen.»
Diese Umfrage – und die Aussagen der Befragten – zeigen deutlich, dass die Alumnae der EPFL zwar eine dynamische, hochkarätige Kraft in der Arbeitswelt darstellen, dass es aber vielen noch an einem Umfeld fehlt, das ihren Erfolg fördert. Es gibt eine Reihe kritischer Punkte, die angegangen werden müssen, um eine größere Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz zu erreichen und die nächste Generation von Wissenschaftlerinnen und Ingenieurinnen zu inspirieren. Zu den konstruktiven Massnahmen könnten alternative politische Entscheidungen, die Veränderung von Unternehmenskulturen, die Schaffung eines Bewusstseins für geschlechtsspezifische Vorurteile und die Notwendigkeit, alle Formen von Sexismus zu bekämpfen, sowie die Förderung einer gleichmäßigeren Aufgabenverteilung zu Hause gehören. Für Ingenieurinnen sind auch Investitionen in ihre Netzwerke und ihre persönliche Entwicklung wichtig.