«Wissenschaftliche Kooperationen sind zweifellos für alle Beteiligten ein Gewinn»
«Wissenschaftliche Zusammenarbeit geht vor» – das ist die Parole von Stick to Science, einer Initiative, die eine schnelle Wiedereingliederung der Schweiz und des Vereinigten Königreichs in die europäische Forschungslandschaft fordert. Mehr als hundert bekannte Persönlichkeiten aus Universitäten, Forschungsförderorganisationen und grossen Hochschuleinrichtungen in Europa haben diesen Appell bereits unterschrieben.
Die Initiative betont, wie wichtig es für den europäischen Kontinent ist, seine Innovations- und Forschungslandschaft offenzuhalten, damit diese von den Beiträgen der Schweiz und des Vereinigten Königreichs – zwei gewichtigen Vertretern der internationalen Wissenschaftsgemeinde – profitieren kann. Um die grossen gesellschaftlichen Herausforderungen, von Pandemien und Ernährungssicherheit bis zum Klimawandel, meistern zu können, braucht es eine umfassende wissenschaftliche Zusammenarbeit. «Wissenschaft und Bildung dürfen nicht aus politischen Gründen geopfert werden», erklärt Michael Hengartner, Präsident des ETH-Rats und Co-Initiator von Stick to Science.
Die Beziehungen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) sind, so scheint es, in einer Sackgasse. Das betrifft vor allem die Wiederaufnahme der Schweiz in das Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon Europe. Kann eine Online-Petition die Meinungsbildung in Brüssel und Bern wirklich beeinflussen?
Ja, davon bin ich überzeugt. Viele europäische Länder haben auf unseren Appell sehr schnell reagiert. Wissenschaftliche Kooperationen sind zweifellos für alle Beteiligten ein Gewinn, auch für die Europäische Union (EU). Sie wird umso stärker, je intensiver die Länder innerhalb, aber auch ausserhalb ihrer Grenzen, zusammenarbeiten. Der Nutzen dieser Zusammenarbeit liegt auf der Hand – sowohl für die Wissenschaft als auch für die Politik. Die EU-Mitgliedsstaaten werden sich daran erinnern, sobald sich wieder neue Chancen bieten, vor allem, wenn dieser Nutzen von ihren eigenen wissenschaftlichen Einrichtungen propagiert wird.
Die Kampagne Stick to Science appelliert an die zuständigen Behörden, wissenschaftliche Kollaborationen von der Politik getrennt zu betrachten. Die EU hat allerdings wiederholt betont, dass die Aufnahme in Horizon Europe eine politische Lösung mit der Schweiz voraussetzt…
Sicher muss die Schweiz hier eine politische Herausforderung mit der EU meistern. Allerdings unterstreicht unsere Kampagne, dass Wissenschaft und Bildung in ihrer Tragweite über die EU hinausweisen und daher nicht der Politik geopfert werden dürfen. Denken Sie nur an Erasmus: Dieses Austauschprogramm für Studierende und Mitarbeitende von Hochschulen hat in allen Ländern des Kontinents einen enormen Beitrag zur Entstehung einer europäischen Identität geleistet. Der Ausschluss der Schweiz und des Vereinigten Königreichs ist ein politischer Entscheid, der nicht nur unseren beiden Ländern, sondern auch der EU schadet.
Die Initiative wird von der britischen und der Schweizer Wissenschaftsgemeinde getragen. Beide Länder haben allerdings sehr unterschiedliche Beziehungen zur Europäischen Union, denn das Vereinigte Königreich könnte schon bald wieder aufgenommen werden, wenn die irische Grenzfrage beantwortet ist. Könnte die Kampagne darunter leiden?
Unsere beiden Länder gehen in der Politik sehr unterschiedliche Wege, pflegen aber äusserst enge Beziehungen auf der wissenschaftlichen Ebene. Die von der Initiative vertretene Vision ist entschieden europäisch. Natürlich hoffe ich, dass das Vereinigte Königreich seinen Platz in der europäischen Wissenschaftsgemeinde rasch wieder einnehmen kann. In diesem Fall würden sich unsere britischen Freunde sicher davor hüten, die internationale Zusammenarbeit nicht länger zu unterstützen, denn dessen Bedeutung hängt nicht von spezifischen politischen Umständen ab.
Müsste man nicht eher über die Mitgliedsstaaten, auch jene in Mittel- und in Osteuropa, gehen als über Brüssel?
Die Ministerien für auswärtige oder europäische Angelegenheiten in den Mitgliedsstaaten für unsere Sache zu gewinnen, ist in der Tat wichtig. Die meisten der für Bildung und Wissenschaft zuständigen Ministerien sprechen sich ja bereits für eine Assoziierung der Schweiz und des Vereinigten Königreichs aus. Wir verfolgen aber keine politische Strategie. Wir wollen ganz klar über die Konsequenzen politischer Entscheide informieren. Das oberste Ziel ist es, dass unsere Botschaft von den führenden akademischen Einrichtungen und Innovationsgremien der Mitgliedsstaaten verbreitet wird. Die Schweizer Institutionen werden ihre bilateralen Kollaborationen mit den Ländern Mittel- und Osteuropas fortsetzen, wie mit den anderen Ländern der EU auch. Die beiden ETH unterstützen beispielsweise den Aufbau eines KI-Forschungsinstituts in Bulgarien. Solche Beziehungen stellen wichtige Partnerschaften dar.
Können Sie nachvollziehen, warum Länder wie die Türkei und Georgien – und bald auch Tunesien –bereits in Horizon Europe aufgenommen wurden?
Das ist eine positive Entwicklung. Die Wissenschaft bietet uns die Möglichkeit eines Brückenschlags zu Ländern, für die wir ein besseres Verständnis entwickeln möchten, um die Zukunft auf der Grundlage gemeinsamer Werte zusammen zu gestalten. Das ist das Wesen der Diplomatie durch Wissenschaft.
Im Ausland werden die Stimmen lauter, die sich für eine Wiederaufnahme der Schweiz in die europäische Forschungsgemeinde aussprechen. Verteidigt die akademische Gemeinschaft ihre Interessen jetzt selbstbewusster?
Das denke ich auch, ja. Die Wissenschaft neigte bisher dazu, von der Politik Abstand zu wahren. Bis zum bösen Erwachen im Jahr 2014, als die Schweiz im Zuge der Masseneinwanderungsinitiative aus Horizon 2020 ausgeschlossen wurde. Seither haben wir unsere Informationsstrategie intensiviert. Ich hoffe, dass wir damit einen Beitrag zur Lösungsfindung leisten.