Netto-Null-Ziel erfordert schnelle Investitionen
Sowohl die Europäische Union als auch die Schweiz haben sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu werden und ihre Treibhausgasemissionen auf Netto-Null zu reduzieren. Um dieses Ziel zu erreichen, sind grosse Investitionen in die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, die Stromnetze, Speicherkapazitäten und andere klimarelevante Infrastrukturen erforderlich. Wie hoch diese aber in den nächsten 15 Jahren ausfallen müssen und welche Bereiche dabei am wichtigsten sind, war bis anhin unklar.
Diese Lücke füllt nun eine Meta-Studie von ETH-Professor Bjarne Steffen und Lena Klaaßen, die kürzlich in der Fachzeitschrift Nature Climate Change erschienen ist. Die Autoren kommen zu dem Schluss: Wenn in den nächsten zwei Jahren nicht jährlich 302 Milliarden Euro in klimarelevante Infrastrukturen in Europa fliessen, ist das Netto-Null-Ziel gefährdet.
Ein Drittel mehr Investitionen nötig
«Im Vergleich zu den letzten Jahren müssen die Investitionen in grüne Infrastrukturen pro Jahr um 87 Milliarden steigen und das so schnell wie möglich. Das sind über ein Drittel mehr als bisher», erklärt Erstautorin Klaaßen, die an der Professur für Klimafinanzierung der ETH Zürich doktoriert. Angesichts der Grösse der europäischen Aktien- und Anleihemärkte ist das Geld dafür vorhanden. Die Herausforderung bestehe aber vor allem darin, die nötigen politischen Weichen schnell genug zu stellen, damit das Kapital in die richtigen Projekte fliesst.
Die ETH-Forschenden untersuchten 56 Technologie- und Investmentstudien aus der Wissenschaft, der Industrie und dem öffentlichen Sektor. Sie konzentrierten sich dabei auf die Staaten der EU, berücksichtigen aber auch Daten zum Vereinigten Königreich, zu Norwegen und zur Schweiz. Die gesamteuropäischen Trends sind daher auch für die Schweiz relevant.
Drei Bereiche sind besonders relevant
Am deutlichsten steigt der Investitionsbedarf bei der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. «Um die Entkarbonisierung aller Lebensbereiche voranzutreiben, müssen in den nächsten Jahren jährlich rund 75 Milliarden in Solar- und Windkraftanlagen fliessen. Das sind 24 Milliarden mehr pro Jahr als in der jüngeren Vergangenheit», sagt Steffen.
Ähnlich sieht es beim Ausbau der Verteilnetze und der Eisenbahn aus: Auch in diese Bereiche müssen verglichen mit dem Zeitraum 2016 bis 2020 40 - 60 Prozent mehr Mittel fliessen, um die Elektrifizierung und die Verlagerung des Verkehrs von der Strasse auf die Schiene auszuweiten.
Ukrainekrieg verstärkt Trends
Den Autoren zu Folge verstärkt der Krieg in der Ukraine diese Trends zusätzlich: «Um möglichst wenig Gas aus Russland zu importieren, müsste Europa rund 10 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich in die Solarenergie und die Windkraft investieren. Im Vergleich dazu ist der Investitionsbedarf für zusätzliche Erdgasinfrastruktur wie LNG-Terminals mit rund 1,5 Milliarden pro Jahr deutlich geringer», sagt Steffen.
Laut der ETH-Studie sollten fossile Energieträger wie Kohle, Öl- und Gas in Europa in Zukunft weniger Kapital binden. Insbesondere der Investitionsbedarf in konventionelle Kraftwerke sinkt um 70% innerhalb weniger Jahre.
Regulierung auf unterschiedliche Bereiche zuschneiden
Was kann die Politik tun, damit schnell mehr Kapital für den Ausbau grüner Infrastrukturen zur Verfügung steht? «Politische Massnahmen sollten auf die Finanzierung in jenen Sektoren zugeschnitten sein, wo der grösste Investitionsbedarf besteht», erklärt Klaaßen. Dies sei heute nicht selbstverständlich: So konzentrieren sich bestehende Regulierungen in der EU auf die Identifikation nachhaltiger Wertpapiere, obwohl wichtige klimarelevante Infrastrukturen gar nicht über Aktienmärkte finanziert werden.
Der Ausbau erneuerbarer Energien wird hingegen oft durch private Investoren wie Pensionsfonds und Banken ermöglicht. Die öffentliche Hand sollte deren Risiko durch Erlösgarantien und durch möglichst rasche und berechenbare Bewilligungsverfahren minimieren. Zudem können öffentliche Investitionen in neue Technologien wie zum Beispiel die CO2-Speicherung dazu beitragen, dass sich auch private Investoren in diese Bereiche vorwagen.