Kulturelle Archive zum Leben erwecken
Obwohl das Wort «Archiv» oft an endlose Regale mit ungestörten Büchern oder Filmdosen denken lässt, haben moderne Digitalisierungstechniken den Zugang zu kulturellen Archiven als Datenquellen für Forschung und Bildung erleichtert. Doch die Mitglieder der Living Archive Research Group, zu der auch das Cultural Heritage and Innovation Center (CHC) der EPFL gehört, sehen in den Kulturarchiven ein noch grösseres Potenzial: Sie wollen die Kraft dieser Daten im Namen der Kreativität nutzbar machen.
«Die Forschungsgruppe ‹Lebendige Archive› interessiert sich für die Nutzung von Archiven, um neue Darbietungen und künstlerische Kompositionen zu schaffen und die Auswirkungen solcher Kreationen auf das Publikum zu untersuchen», erklärt Alain Dufaux, operativer Direktor des CHC. «Die Rolle des CHC besteht darin, Archive zur Verfügung zu stellen, um sie aufzuwerten, und zwar nicht nur durch Technologie oder Sozial- und Geisteswissenschaften, sondern durch künstlerisches Schaffen selbst.»
Zusammen mit seinen Kollegen Christophe Fellay von der Walliser Kunsthochschule (EDHEA), Didier Grandjean und Carole Varone vom Schweizerischen Zentrum für Affektive Wissenschaften (CISA) der Universität Genf und Irene Hediger von der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdk), arbeitet Dufaux an der Entwicklung neuartiger kreativer und künstlerischer Erfahrungen, die auf den unschätzbaren Daten kultureller Archive beruhen – von den Aufnahmen jahrzehntelanger Aufführungen des Montreux Jazz Festivals und des Verbier Festivals bis hin zu den persönlichen audiovisuellen Sammlungen des Schweizer Astronauten Claude Nicollier.
Die Forschungsgruppe organisierte kürzlich einen Workshop mit dem Titel «Archive, ein Material für Emotionen?», um die Arbeit der Forschungsgruppe Lebendige Archive im Rahmen des diesjährigen Montreux Jazz Festivals vorzustellen. Die Teilnehmenden tauchten in eine hochauflösende akustische Umgebung ein, während sie sich einige der 5000 Festivalaufnahmen anhörten, die im Rahmen des Montreux Jazz Digital Project aufbewahrt werden. Diese Sammlung ist im UNESCO-Register «Memory of the World» aufgeführt und wird von der Claude Nobs Foundation und der CHC unterstützt. Die Emotionen und Gefühle der Teilnehmenden wurden während des Zuhörens aufgezeichnet, und die Ergebnisse werden von den Mitgliedern der Forschungsgruppe präsentiert und diskutiert. Der Workshop folgt auf Montreux Sonic Choreography, das die Forschungsgruppe bei der Festivalausgabe 2021 organisiert hat.
Um die Beziehung zwischen Musik und Emotionen zu vertiefen, lanciert die Gruppe in Zusammenarbeit mit dem Professor Davide Picca von der Universität Lausanne eine grössere Studie. Die Forschenden wollen die Emotionen, die das Publikum des Montreux Jazz Festivals nach einem Live-Konzert empfindet, auswerten und sie dann mit den Emotionen vergleichen, die es bei der Entdeckung von Konzertaufnahmen auf verschiedenen Plattformen, darunter auch immersiven Installationen, erlebt.
Eine neue Rolle für die Archive
Die Forschenden sind der Ansicht, dass die Entwicklung digitaler Methoden in den Bereichen künstliche Intelligenz, virtuelle Realität und Datenwissenschaft Forschenden und Kunstschaffenden gleichermassen eine einzigartige Gelegenheit bietet, die Rolle von Archiven als Räume für die öffentliche Auseinandersetzung mit Kultur sowie als Datenquellen für neue Formen des künstlerischen Schaffens zu überdenken und neu zu erfinden.
So arbeitet das CHC derzeit mit dem College of Humanities Laboratory for Experimental Museology (eM+) unter der Leitung von Sarah Kenderdine im Rahmen eines neuen, von Sinergia finanzierten, Forschungsprojekts zusammen, das darauf abzielt, eine immersive Plattform für die Präsentation von Archiven in der Öffentlichkeit zu schaffen. Diese Plattform wird die interaktive Teilnahme des Publikums sowie die Integration von Musikimprovisationen durch Live-Musiker ermöglichen. Das eM+ wird auch Nicolliers Archive, die vom CHC digitalisiert wurden, in die kommende Ausstellung «Cosmos Archaeology» integrieren. Die Ausstellung, die im September in den EPFL-Pavillons stattfinden wird, wird virtuelle Realität und astronomische Datensätze im Exabyte-Bereich nutzen, um «den Kosmos als eine sich bewegende, lebendige Struktur zu enthüllen».
Fellay, Grandjean und Dufaux sehen auch künftige Projekte vor, bei denen neue Kompositionen und künstlerische Kreationen verwendet werden, um Lücken in Sammlungen wie dem Montreux Jazz Archiv zu füllen, Stücke mit künstlicher Intelligenz zu schaffen, Aufführungen zu kreieren, an denen das Publikum virtuell teilnehmen kann, indem es seine eigenen musikalischen Elemente hinzufügt, und die Emotionen von Publikum und Musikern zu analysieren, die aus solchen Erfahrungen resultieren.
Dufaux stellt fest, dass ein Paradigmenwechsel sowohl in der Musikindustrie als auch in der Erforschung kultureller Archive zu erwarten ist, insbesondere im Gefolge der Pandemie und im Zusammenhang mit sich entwickelnden Technologien wie NFTs (non-fungible tokens) und dem Metaversum: «Eines unserer Hauptziele ist es, darüber nachzudenken, welche Form die Produktion von Musikarchiven in Zukunft annehmen sollte, basierend auf den Bedürfnissen der Künstler und des Publikums», sagt er.
Mehr kulturelle Archivforschung an der EPFL
Das EPFL+ECAL Lab ist ein langjähriger Partner bei der Entwicklung mehrerer Plattformen für die Archive des Montreux Jazz Festivals. Derzeit arbeitet das Lab an der Neugestaltung des Kulturarchivs des Verbier Festivals anlässlich seines30-jährigen Bestehens im Jahr 2023.