«Ohne diese Technologien erreichen wir unsere Klimaziele kaum»
Herr Kober, Klimaforscher mahnen, dass wir zum Erreichen unserer Klimaziele auch sogenannte Negativemissionstechnologien benötigen. Was ist das?
Tom Kober: Das sind Technologien, die der Atmosphäre CO2 entziehen – und zwar nachhaltig, indem man es zum Beispiel im Boden verpresst, sodass es nicht mehr zurück in die Luft gelangt. Während wir also durch klassischen Klimaschutz wie Energiesparen und alternative Energieträger den Ausstoss von Treibhausgasen aus fossilen Quellen reduzieren, zielen Negativemissionstechnologien darauf ab, bereits emittierte Gase wieder aus der Atmosphäre zu holen. Studien haben gezeigt, dass unsere langfristigen Ziele sonst unerreichbar sind. Denn wir müssen berücksichtigen, dass CO2 mehrere Hundert Jahre in der Atmosphäre verbleibt, und das Klimasystem sehr träge reagiert. Was wir an CO2 vor 50 Jahren ausgestossen haben, belastet unser Klima heute noch, und die Auswirkungen unserer derzeit enormen Emissionen werden wir auch noch in den nächsten Dekaden spüren – selbst wenn wir es schaffen, die Treibhausgasemissionen bis zur Mitte dieses Jahrhunderts auf null zu drücken. Ausserdem gibt es Bereiche unserer Ökonomie, etwa die Landwirtschaft, in denen wir beim besten Willen nicht alle Emissionen umgehen können, wenn wir die Ernährung der Menschen gewährleisten wollen. Um wie geplant bis 2050 auf «Netto-Null» zu kommen, müssen wir also Negativemissionstechnologien – wir nennen sie kurz NET – einsetzen. Sie kompensieren die Emissionen, die sich gar nicht oder nur mit enormem Aufwand vermeiden lassen.
Zählt das Pflanzen von Bäumen auch zu den NET?
Das bezeichnen wir eher als «Negativemissionsmassnahme», aber sie leisten im Prinzip etwas Ähnliches: Bäume binden CO2 aus der Luft, in dem es in Holz umgewandelt wird – immerhin so lange, bis das Holz wieder vermodert oder verbrennt, was im Idealfall nach einem sehr langen Zeitraum erfolgt. Das Aufforsten von Wäldern verbessert also ebenfalls die Klimabilanz. Auch andere nichttechnische Massnahmen werden erprobt: Etwa die Ozeane mit Eisen und anderen Nährstoffen zu düngen, um das Wachstum von Algen anzuregen, die dann mehr CO2 aufnehmen. Oder ein verbessertes Bodenmanagement unter Einsatz von Pflanzenkohle: Ernterückstände und verkohlte Biomasse samt des darin gebundenen Kohlenstoffs werden aktiv quasi als Dünger in den Boden eingebracht. Das fördert die Durchwurzelung, verbessert den Wasserhaushalt und verhindert die Auswaschung von Nährstoffen. Gleichzeitig sorgt es für mehr Kohlenstoff-Bindung im Boden. Es kommt also sowohl der Ernährungssicherung als auch dem Klima zugute. Meine Gruppe analysiert aber eher die technischen Lösungen.
Welche gibt es da?
Im Wesentlichen zwei Arten: Zum einen existieren inzwischen Demonstrationsanlagen, die die Luft über Ventilatoren ansaugen, an grossen Filterflächen vorbeiführen und das enthaltene CO2 abtrennen. Die «gereinigte» Luft geht zurück in der Atmosphäre, das CO2 wird abgeleitet und zum Beispiel im Untergrund abgelagert. Solche Technologien bezeichnet man allgemein als Carbondioxide Air Capture oder auch «Direct Air Capture»-Technologie. Eine zweite wichtige Möglichkeit ist, das CO2 nicht direkt aus der Luft zu filtern, sondern bei der Produktion von Energie aus Biomasse aus den Abgasen beziehungsweise Prozessgasen abzuscheiden. In einer typischen Schweizer Kehrichtanlage zum Beispiel sind etwa die Hälfte der Abfälle biogen. Wenn wir dort eine Anlage zur Abtrennung und Speicherung von CO2 (Carbondioxid Capture and Storage, kurz CCS) anschliessen, können wir den von der Pflanze zur Photosynthese aus der Luft aufgenommenen Kohlenstoff herauslösen und ebenfalls im Untergrund lagern, anstatt dass er bei der Verbrennung wieder in die Luft gerät. Gleichzeitig könnten wir dabei Wärme und Strom produzieren – oder Ethanol und Wasserstoff, die wir dann als klimaneutrale Kraftstoffe weiterverwenden können. Somit können wir Energie erzeugen und gleichzeitig der Atmosphäre CO2 entziehen – also mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Liessen sich mit dem abgeschiedenen Kohlenstoff nicht auch synthetische Kraftstoffe herstellen?
Ja, aber dann hätten wir keine negative Emission, weil der Kohlenstoff durch die Verbrennung des synthetischen Diesels, Benzin oder Flugkraftstoff in den Fahrzeugen zeitnah doch wieder in der Atmosphäre landet. Dieser technologische Ansatz wäre allenfalls klimaneutral. Der gewünschte Gewinn von negativen Emissionen liegt nur vor, wenn ich den Kohlenstoff am Ende quasi «wegschliesse» und dem CO2-Kreislauf dauerhaft entziehe.
Es gibt allerdings Stimmen zu CCS, die warnen, man wisse nicht, was das Kohlendioxid im Untergrund anrichtet, ob es sich bei Lecks vielleicht schädlich auf Grundwasser und Erdboden auswirkt – oder doch wieder in die Luft entweicht…
In Europa ist die Bevölkerung da inzwischen sehr skeptisch, das stimmt, und es gibt meines Wissens auch kaum noch Projekte, in denen die Technik erprobt wird. In früheren Projekten wurde die Lagerung von CO2 verschiedentlich untersucht, zum Beispiel am deutschen Pilotstandort Ketzin bei Versuchen des Geoforschungszentrums Potsdam, wo die Speicherung zuverlässig und sicher in einem salinen Aquifer erfolgte. In der Nordsee wird CO2 seit mehreren Jahren erfolgreich in mehr als 800 Metern Tiefe im Sedimentgestein unter dem Meeresgrund erfolgreich gelagert. Der norwegische Rohstoffkonzern Equinor verpresst seit 1996 im Bereich des Sleipner-Erdgasfelds sowie seit 2008 im Bereich des Snøhvit-Gasfelds kontinuierlich grosse Mengen CO2 und beobachtet das Verhalten von CO2 im Untergrund genau. Wie auch bei Lagerstätten für Erdgas sorgen natürliche Deckschichten – zum Beispiel aus Lehm – dass das eingebrachte CO2 im Untergrund gefangen bleibt. Meines Erachtens sollten wir CCS unbedingt weiter erforschen und erproben und dies nicht nur Ländern ausserhalb Europas überlassen. Wer den Klimaschutz ernst nimmt, muss sich alle Optionen offenhalten.
Wie weit sind NET denn schon entwickelt?
Im Pilot- oder Demonstrationsmassstab funktioniert die Technik bereits. Die Schweizer Firma Climeworks zum Beispiel betreibt in Island ein Projekt zur Abscheidung aus der Luft. Und einige wenige Kraftwerke verfügen schon über CCS-Anlagen, aber diese nutzen in der Regel nicht Bioenergie und trennen relative kleine Mengen an CO2 ab. Darüber hinaus werden in Nordamerika einige Bioethanolanlagen mit CO2-Abscheidung betrieben. Aber im wirklichen kommerziellen Grossmassstab ist das alles noch nicht etabliert – hierbei meine ich insbesondere den Kraftwerksbetrieb im Bereich mehrerer Hundert Megawatt. Das steht in den nächsten Jahren an, wobei sicherlich die Prozessintegration für Grossanlagen eine Herausforderung darstellt. Zudem bleiben noch einige technologische Herausforderungen für NET, zum Beispiel die Biomasse so umzuwandeln, dass kontinuierlich reiner Wasserstoff und reines Kohlendioxid produziert werden kann. Hinzu kommen die Herausforderungen, CO2 in grösseren Mengen und über lange Strecken zu transportieren und anschliessend in unterirdische Gesteinsformationen einzulagern. Letzten Endes bestehen wirtschaftliche Herausforderungen für die gesamte Kette für NET, die diese Technologien als vergleichsweise kostenintensive Emissionsminderungsoptionen darstellen. Unsere Modellberechnungen für die Schweiz sagen, dass langfristig insbesondere Kehrichtverbrennungsanlagen mit CCS sowie die Wasserstofferzeugung aus biogenen Rohstoffen mit CO2-Abscheidung kosteneffiziente NET-Lösungen im Sinne des Netto-Null-Emissionsziels sein können, vorausgesetzt NET erfahren in Zukunft Verbesserungen bei den Kosten und der Effizienz. Der in NET produzierte Wasserstoff könnte dann direkt als alternativer Treibstoff im Schwerlastverkehr, gegebenenfalls auch im Flugverkehr oder Schiffverkehr eingesetzt werden – dort, wo batterieelektrische Fahrzeuge weniger geeignet sind, weil in solchen Verkehrsmitteln hohe Energiedichten gefragt sind.
Von welchen Mengen an Treibhausgasen sprechen wir denn, die diese Technologien bis Mitte des Jahrhunderts aus der Luft ziehen sollen?
Unseren Analysen zufolge müssen wir im globalen Massstab bis 2060 auf ein Level kommen, dass NET der Atmosphäre jedes Jahr rund zehn Gigatonnen, also zehn Milliarden Tonnen, CO2 entnehmen. Das ist ein knappes Drittel der circa 35 Gigatonnen, die wir aktuell weltweit jedes Jahr energiebedingt an CO2 ausstossen. In der Schweiz zeigen unsere Modellergebnisse für das Jahr 2050 etwa 4 Millionen Tonnen CO2, die durch NET abgetrennt und gespeichert werden müssen, um das ehrgeizige Netto-Null-Ziel zu erfüllen.
Könnten NET – wenn sie sich bewähren – Druck vom Klimaschutz nehmen, sodass wir uns dort mehr Zeit lassen können?
Ganz im Gegenteil! Alle möglichen und kosteneffizienten Massnahmen, Treibhausgase einzusparen, müssen unbedingt so schnell, wie es eben geht, umgesetzt werden. NET sind da nicht als Freifahrtschein misszuverstehen. Sie sind durchaus kostspielig und sollten daher nur dazu eingesetzt werden, den verbleibenden Rest der Emissionen wieder einzufangen, der nur äusserst schwer zu vermeiden ist.
Gibt es in der Schweiz überhaupt genügend Lagermöglichkeiten für CO2 im Boden?
Darin liegt bei uns in der Tat eine Herausforderung. Unsere Modelle sagen, dass wir für eine Schweizer Netto-Null im Jahr 2050 auf eine Rate von insgesamt neun Millionen Tonnen CO2 pro Jahr kommen müssen, die wir durch NET und andere CCS-Technologien abscheiden und einlagern. Eine Studie der ETH Zürich hat jedoch ergeben, dass das Schweizer Speicherpotenzial mangels entsprechend poröser Sedimente insgesamt nur bei rund 50 Millionen Tonnen liegt. Damit kommen wir also nicht weit. Zumal wir die Speicherrate über 2050 hinaus beibehalten müssen. Wir müssen uns also rechtzeitig umschauen, wo es ausserhalb der Schweiz grosse Reservoirs gibt, die wir mitnutzen können. Es wäre zum Beispiel denkbar, CO2 über Pipelines oder mit Schiffen zur Nordsee zu bringen, um die dortigen enormen CO2-Speicher-Potenziale mit zu nutzen.
Wird das nicht sehr teuer?
Man müsste dafür mit einem dreistelligen Frankenbetrag pro Tonne rechnen. Aber unsere Kostenanalysen zeigen: Die Akzeptanz der Bevölkerung vorausgesetzt sind NET dennoch in der Langfristperspektive ökonomisch sinnvoll und wettbewerbsfähig. Denn Alternativen, um auf die Netto-Null zu kommen, können für bestimmte Anwendungen um ein Vielfaches teurer sein. Im Übrigen gäbe es noch die Möglichkeit, die Anlagen ganz woanders zu betreiben. Für die globale Klimabilanz ist es egal, ob der Luft das CO2 in der Schweiz oder beispielsweise in Asien entzogen wird. Darum sollten wir auch Ausschau nach den günstigsten Standorten für solche Anlagen halten, und internationale Kooperation ist dabei von besonderer Bedeutung. Dies setzt natürlich auch voraus, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen für solche Massnahmen gegeben sind – also dass Massnahmen zur Emissionsminderung im Ausland auch dem inländischen Emissionsziel angerechnet werden.
Welche sind denn günstig?
Das kommt auf die Technologie an. Die direkte Abscheidung aus der Luft ist sehr flächen- und energieintensiv und vor allem dort sinnvoll, wo Grundstücks- und Energiepreise niedrig sind. Und Anlagen auf biogener Basis brauchen viel, möglichst nachhaltig erzeugte Biomasse in der Nähe – vor allem hölzerne Biomasse sowie biogenen Abfall und Ernterückstände. Zudem sollte es ortsnah Abnehmer für den Wasserstoff geben – und natürlich CO2-Lagerstätten unter der Erde. Ohne das detailliert untersucht zu haben, könnte ich mir vorstellen, dass zum Beispiel im osteuropäischen Raum beziehungsweise Westasien entsprechende biogene Ressourcen und CO2-Lagerstätten vorhanden sein könnten. Wir haben gerade ein neues Forschungsprojekt begonnen, in dem wir unter anderem auch internationale Versorgungspfade für Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe analysieren und damit gegebenenfalls auch NET näher beleuchten. Wenn das beendet ist, kann ich vermutlich Genaueres dazu sagen.