Wenn Steine ins Rollen kommen
Johan Gaume, Professor für Alpine Massenbewegungen an der ETH Zürich und am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos, beschäftigt sich mit Lawinen, Erdrutschungen sowie granulären und Schuttflüssen. Um abzuschätzen, welche Gebiete durch solche Naturkatastrophen gefährdet sein könnten, haben er und seine Mitarbeitenden eine neue Simulationssoftware entwickelt. Damit konnten sie im Fall von Brienz kurz vor dem Bergsturz vorhersagen, wie weit die Gesteinslawine gelangen könnte – und das reale Ereignis stützte die Simulation schliesslich auch «empirisch». Im Interview erklärt der Forscher, wie sein Modell funktioniert und weshalb er sich im vergangenen Sommer, als der Bergsturz aktuell war, mit der Kommunikation zurückhielt.
ETH-News: Mit Ihrem neuen Modell konnten Sie vor dem eigentlichen Bergsturz von Brienz fast auf den Meter genau vorhersagen, wo das Gesteinsmaterial zum Stillstand kommen würde. Was ist das Geheimnis dieses Modells?
Johan Gaume: Bisherige Modelle sind zweidimensional mit empirischen Reibungsgesetzen, deren Parameter in der Regel auf der Grundlage von Daten aus vergangenen Ereignissen zurückgerechnet werden. Da sich reale Ereignisse unter gleichen Bedingungen nicht beliebig oft wiederholen, ist die Kalibrierung nicht einfach und die Unsicherheiten bei der Modellierung entsprechend gross. Unser Modell hingegen orientiert sich an den beteiligten Materialien Eis, Schnee oder Fels, ist vollständig dreidimensional und benötigt im Wesentlichen nur drei Komponenten: ein digitales Höhenmodell zur Darstellung der Topografie, das Volumen des freigesetzten Materials und verschiedene mechanische Eigenschaften wie Reibung und Festigkeit des Materials. Diese Eigenschaften können mit klassischen geotechnischen Laborversuchen ermittelt werden.
Wurde das Modell speziell für den Fall Brienz entwickelt?
Nein, es wurde ursprünglich für die Simulation von Schneelawinen entwickelt. Da unser Code aber materialorientiert ist, ist es relativ einfach, ein anderes Materialmodell einzufügen und das Verhalten von Felsen, Eis und Wasser zu simulieren.
Warum war Brienz für Sie so wichtig?
Brienz war für uns die Gelegenheit, einen Beitrag zu diesem Fall zu leisten und zu testen, wie genau unser Modell solche Ereignisse vorhersagt. Bis vor kurzem konnten wir es nur anhand vergangener Ereignisse testen. Deshalb war Brienz für uns besonders interessant. Aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit eines Grossereignisses haben wir mit unseren Simulationen eine Blindprognose gemacht und unsere Ergebnisse den Kantonsbehörden übermittelt.
Wie sah diese Prognose aus?
Wir haben zwei Szenarien erstellt: ein trockenes und ein pessimistisches mit viel Wasser, das die Beweglichkeit des Gesteinsmaterials erhöht. Für den Fall eines trockenen Bergsturzes sagten wir voraus, dass die Felslawine ungefähr 20 Meter vor dem Dorf zum Stillstand kommen würde. Unser zweites Szenario zeigte aber, dass bei einer grossen Wassermenge mehr als die Hälfte des Dorfes durch den Felssturz betroffen sein könnte.
Das klingt nach einer hohen Vorhersagegenauigkeit für ein trockenes Szenario. Wie realitätsnah ist Ihr Modell?
Obwohl wir erfreulicherweise feststellen konnten, dass sich unsere Simulation gut mit der Realität deckt, waren unsere Modellierungsergebnisse nicht perfekt und enthielten einige Unstimmigkeiten. Zum Beispiel wurde das Materialvolumen in unserer Simulation leicht überschätzt. Ausserdem hat unser Modell eine stärkere seitliche Ausbreitung aufgewiesen, als wir sie in der Realität beobachtet haben.
Im vergangenen Sommer haben Sie die Prognosen zurückgehalten. Warum?
Einerseits war ich begeistert, dass unsere Simulation so genau war. Wir haben jahrelang daran gearbeitet, deshalb wollte ich einerseits den Erfolg im Fall Brienz kommunizieren. Andererseits gab es grosse Unsicherheiten, wie zum Beispiel die Frage nach dem Wasser und das Auslöseszenario. Wäre viel Wasser im Spiel gewesen, wäre die Simulation ziemlich ungenau geworden, weil es ihr an einer vollständigen hydromechanischen Kopplung fehlt. Daran arbeiten wir derzeit. Ich habe aber auch mit der Kommunikation gezögert, weil der politische Aspekt heikel war. Die Menschen vor Ort hätten eine solche Botschaft missverstehen können. Selbst wenn mein Modell vorhersagen würde, dass ein grosser Felssturz stattfinden und 20 Meter von meinem Haus entfernt stoppen wird, würde ich evakuieren, weil zu viele Unsicherheiten bestehen.
Wie lange haben Sie an diesem Modell gearbeitet?
Seit 2017 arbeite ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen vom SLF und der Universität von Kalifornien Los Angeles (UCLA) an einer neuen Generation von Computermodellen, die alpine Massenbewegungen möglichst genau simulieren. Dazu gehören Schnee-, Eis-, Stein- und Murgänge sowie Kaskaden, bei denen ein Prozess wie eine Stein-Eislawine einen Murgang auslöst. Generell beschäftige ich mich seit langem mit Modellierungen, die sich auf die Auslösung und Dynamik von Massenbewegungen in den Alpen beziehen.
Wie lässt sich das Modell verbessern?
Für Brienz ist ein Postdoc in meiner Gruppe an der ETH und am SLF daran, die Daten neu zu analysieren. Wir werden zusätzliche Simulationen durchführen, um unsere Vorhersagen zu evaluieren und zu sehen, was wir besser hätten machen können. Unsere Blindsimulationen und die anschliessenden Analysen werden wir diesen Sommer an der Interpraevent-Konferenz in Wien präsentieren. Darüber hinaus entwickeln wir derzeit weitere Modelle, in denen wir Feststoffe und Flüssigkeiten gleichzeitig kombinieren können, so dass wir eine Mischung aus einer zähen Flüssigkeit und groben, grösseren Partikeln, also Gesteinsbrocken, erhalten. Außerdem erweitern wir unsere Modelle, um die Auswirkungen der Klimaerwärmung besser untersuchen zu können. Dazu brauchen wir Modelle, die die Wechselwirkung zwischen flüssiger und fester Phase simulieren, aber auch Phasenwechsel von fest zu flüssig oder Temperatureffekte erfassen. Und nicht zuletzt arbeiten wir daran, Prozesskaskaden zu simulieren, wie sie sich am Piz Cengalo ob Bondo abgespielt haben. Bei solchen Kaskaden löst ein Ereignis ein anderes aus, und dieses wiederum ein weiteres. Solche katastrophalen Prozesskaskaden könnten durch den Klimawandel häufiger und heftiger werden. Sie beginnen hoch oben im Alpenraum und könnten als Gemisch aus flüssigen und festen Bestandteilen ins Tal fliessen.
Stellen Sie ihre Modelle der Praxis zur Verfügung?
Damit wir die Modelle der Praxis zur Verfügung stellen können, müssen wir zuerst deren Anwendung vereinfachen. Wir werden bald damit beginnen, eine graphische Benutzeroberfläche zu entwickeln, damit sie anwenderfreundlich werden. Zudem wollen wir die Effizienz unseres Codes verbessern. Die Brienz-Simulation hatte zum Beispiel eine Auflösung von zwei Metern und umfasste etwa zwei Millionen Partikel. Ein guter Büro-Computer benötigte weniger als zehn Minuten für die Ausführung. Eine Version, die Grafikprozessoren und KI-Werkzeuge nutzen könnte, würde es uns ermöglichen, entweder die Auflösung zu verbessern oder Simulationsergebnisse in weniger als einer Minute verfügbar zu machen.
Wie werden Sie das Modell künftig einsetzen?
Wir setzen unser Modell für die Forschung und für die Beratung ein. Wir hatten einige Anfragen von kantonalen Ämtern und Ingenieurbüros, um Simulationen in Fällen durchzuführen, in denen klassische Ansätze schwierig sind. Die meisten unserer Arbeiten beziehen sich jedoch im Moment auf die Forschung. Angesichts der vorgesehenen Verbesserungen und Entwicklungen vermute ich, dass sich auch die Praxis für unser Modell interessieren könnte.
Auf welche anderen Fälle könnten Sie Ihr Modell in der Schweiz oder in den Alpen in naher Zukunft anwenden?
Derzeit sind wir Teil des wichtigen WSL-Projekts Climate Change Impacts on Mass Movements, in dem wir Szenarien und Simulationen im Raum Kandersteg am Spitze Stei oberhalb des Oeschinensees durchführen, wo ein Felshang instabil ist. Hier simulieren wir eine potenzielle massive Steinlawine, die eventuell den See erreichen und einen Tsunami auslösen könnte. Das könnte gesättigte Sedimente mitreissen und einen Murgang verursachen, der das Dorf Kandersteg bedrohen könnte.