«Wir sind realistischer geworden»
Frau Günther, Herr Brugger, das «NADEL – Center for Development and Cooperation» feiert sein 50-jähriges Bestehen. Wie hat sich das Verständnis von Entwicklungshilfe seit seiner Gründung gewandelt?
Isabel Günther: Was wir seit 50 Jahren wissen und was sich nicht geändert hat: Internationale Entwicklungsgelder können nur dann Wirkung entfalten, wenn Programme in Zusammenarbeit mit allen relevanten Interessensgruppen gestaltet werden. Deshalb ist das Wort Entwicklungszusammenarbeit passender als das Wort Entwicklungshilfe. Wir sind über die Jahre allerdings realistischer geworden, was wir mit Entwicklungsgeldern im engeren Sinn erreichen können. Makroökonomische Entwicklung kann damit nicht forciert werden, sie wirkt aber unterstützend und beschleunigend, um die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern. Dank einer umfangreicheren Datenlage wissen wir heute viel besser, welche Entwicklungspolitik erfolgsversprechend ist. Dabei spielt übrigens keine Rolle, ob diese durch internationale Entwicklungsgelder oder eigene Steuereinnahmen der Länder finanziert wird.
Fritz Brugger: Das Verständnis hat sich auch dahingehend verändert, dass andere Politikbereiche wie zum Beispiel die Schweizer Klima-, Handels- oder Steuerpolitik eine mindestens genauso wichtige Rolle für eine gerechtere Welt spielen. Entwicklungsgelder verlieren finanziell gesehen an Relevanz: nicht weil weniger dafür ausgegeben wird, sondern weil sich viele Länder über die letzten 30 Jahre wirtschaftlich stark entwickelt haben.
Wo sehen Sie aktuell die grösste Herausforderung in der Entwicklungshilfe?
Günther: Ob COVID-19 eher zu mehr oder weniger internationaler Kooperation führen wird, ist noch eine offene Frage. Eine Herausforderung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit war und bleibt aber die Frage, inwieweit eigene nationale Interessen in Entscheidungen der Entwicklungszusammenarbeit einfliessen.
Brugger: Hinzu kommt im 21. Jahrhundert die Klimakrise, die ärmere Länder ganz besonders trifft, obwohl sie am wenigsten zu den Ursachen beigetragen haben. Wir haben als Industrieländer eine Verpflichtung, Anpassungsmassnahmen zu finanzieren. Die notwendige Finanzierung darf aber nicht zulasten der Armutsbekämpfung gehen. Das ist im Moment die grosse politische Herausforderung.
Der technologische Wandel und die Digitalisierung machen auch vor der Entwicklungshilfe nicht halt. Wie muss sich diese in Zukunft verändern, um diesen Entwicklungen gerecht zu werden?
Brugger: Die Digitalisierung bietet grosse Chancen, um zum Beispiel Gesundheitsdienstleistungen zu verbessern, den Zugang zu finanziellen Dienstleistungen zu ermöglichen oder landwirtschaftliche Beratung wirkungsvoller zu machen. Wir stehen hier erst am Anfang, um dieses Potential auch wirklich zu nutzen. Doch es sind auch Risiken mit der Digitalisierung verbunden, die es unbedingt zu berücksichtigen gilt. Zum Beispiel, dass sie bestehende Abhängigkeiten verstärkt, die Ungleichheit vergrössert und Menschen ausschliesst, die weniger Zugang zu Technologie haben. Studien zeigen, dass Frauen von dieser Entwicklung stärker betroffen sind, selbst in urbanen Gebieten.
Nach den dramatischen Ereignissen in Afghanistan wird erneut über die Wirkung von Entwicklungshilfe diskutiert.
Günther: Es ist tragisch, wie die Freiheiten von vielen Menschen, und vor allem Frauen, jetzt wieder eingeschränkt werden. Denn letztlich ist nachhaltige Entwicklung genau das: Die Freiheit der Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Allerdings scheint auch in Afghanistan die Entwicklungszusammenarbeit zur Verbesserung der Lebensbedingungen beigetragen zu haben. So ist etwa die Kindersterblichkeit in den letzten 20 Jahren um die Hälfte zurückgegangen, Einschulungsraten sind gestiegen. Nicht alle diese sozialen Fortschritte werden rückgängig gemacht werden. Und im Moment spielt die internationale humanitäre Hilfe eine entscheidende Rolle, um das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten und Hungersnöte zu vermeiden. Die aktuellen Ereignisse in Afghanistan zeigen aber, dass ein Staat kaum «von aussen» aufgebaut werden kann. Das ist zwar keine neue Erkenntnis, einige Beobachter scheinen aber Schwierigkeiten zu haben, dies anzuerkennen.
Wie haben sich die Aufgaben des NADEL in den letzten 50 Jahren verändert?
Brugger: Als das NADEL gegründet wurde, damals noch unter dem Namen INDEL, wurde die internationale Zusammenarbeit und Armutsbekämpfung vor allem als technische Unterstützung verstanden. Entsprechend war das Studium, heute der «MAS ETH in Development and Cooperation», sehr technisch ausgerichtet. Der Fokus wurde aber stetig erweitert: Der nachhaltige Umgang mit natürlichen Ressourcen und heute Klimafragen wurden als Themen wichtig, dann Ungleichheit und immer mehr auch politische und gesellschaftliche Fragen. Mit dem «CAS ETH Development and Cooperation» kam die Weiterbildung von Personen mit Berufserfahrung in der internationalen Zusammenarbeit hinzu.
Günther: Heute geht es uns darum, Fragen der nachhaltigen globalen Entwicklung mehr Leuten und Sektoren in der Schweiz nahe zu bringen. In Zusammenarbeit mit dem ETH-internen Netzwerk «ETH for Development» (ETH4D) wollen wir zudem die Lehre internationalisieren.
Was waren in Ihren Augen die Meilensteine?
Günther: Ein erster Meilenstein: Schon vor 50 Jahren hat das NADEL einen Studiengang etabliert, der interdisziplinär und transdisziplinär ausgerichtet war. Das NADEL war also seiner Zeit voraus in der Erkenntnis, dass grosse globale Herausforderungen nur über Grenzen hinweg zu bewältigen sind. Alle Veranstaltungen des NADEL werden aus verschiedenen Denkrichtungen unterrichtet und zusammen mit Entscheidungsträgern aus der Politik und Praxis. Ein weiterer Meilenstein kam dann fast 50 Jahre später: die Ausweitung unseres Lernangebots für Personen ausserhalb der Schweiz und ausserhalb der Entwicklungszusammenarbeit. Um die Agenda 2030 umzusetzen, ist die Mitarbeit aller gefordert – neben der «traditionellen» Entwicklungszusammenarbeit zum Beispiel die des Privatsektors. Deshalb möchten wir auch der Schweizer Öffentlichkeit die Möglichkeiten bieten, mehr über internationale Entwicklung zu erfahren und haben dafür zum Beispiel den Podcast «1,90 pro Tag» lanciert.
Das NADEL ist eng mit der Professur für Entwicklungsökonomie verbunden. Wo liegt der Fokus Ihrer Forschungsarbeit?
Günther: Unser Fokus liegt auf der empirischen Erforschung von Technologien und Politiken zur Armutsbekämpfung auf dem afrikanischen Kontinent. Wir arbeiten hierzu eng mit Forschenden aus verschiedenen Ländern, wie Ghana, Burkina Faso, Mozambique, Benin oder Südafrika zusammen. Aktuell analysieren wir zum Beispiel in Ghana die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf den Zugang zu Routineimpfungen für Kinder, wie Polio-Impfungen. Ein gesicherter Zugang ist essenziell, auch wenn natürlich im Jahr 2021 das grösste Problem der Länder Afrikas der Zugang zu Covid-Impfungen ist. Diese Herausforderung ist allerdings eher eine politische Frage. Ein weiteres Forschungsprojekt beschäftigt sich mit der Frage der Nutzung von Quecksilber bei der Gewinnung von Gold in Burkina Faso und wie diese reduziert und gesundheitliche Schäden vermieden werden können. Ungefähr 70 Prozent des weltweit geschürften Goldes wird in der Schweiz raffiniert.
Was ist Ihr persönlicher Bezug zum NADEL?
Brugger: An der Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis zu arbeiten ist absolut spannend. Ganz besonders in einer Zeit, in der die Internationale Zusammenarbeit im Umbruch ist und neue Akteure sich einbringen. Mir kommt dabei zugute, dass ich selbst lange in der internationalen Zusammenarbeit tätig war und für sehr unterschiedliche Akteure gearbeitet habe.
Günther: Es ist eine unglaublich erfüllende Aufgabe, einen Studiengang mitgestalten zu dürfen, dessen Absolventen sich weltweit für Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit einsetzen. Wir sind mit vielen Alumni in Kontakt und lernen viel von ihnen.
Wenn es das NADEL nicht gäbe, würden Sie es heute nochmal an der ETH Zürich gründen?
Günther: Ja. Effektive internationale Zusammenarbeit ist heute genauso wichtig wie vor 50 Jahren. Die Corona-Pandemie hat dies erneut sehr deutlich gemacht. Auch wenn im Jahr 2021 sehr viel weniger Menschen in Armut leben als noch vor 50 Jahren, ist es angesichts des weltweit gestiegenen Wohlstands kaum mehr zu rechtfertigen, dass immer noch knapp eine Milliarde Menschen von weniger als 1.90 Dollar pro Tag leben müssen.
Brugger: Die Nähe der Praxis zur Forschung ist über die letzten 50 Jahre sogar wichtiger geworden. In einer sich schnell verändernden Welt braucht es unabhängige Forschung als wichtige Informations- und Entscheidungsgrundlage für die Entwicklungszusammenarbeit.
Welche Beziehung hat das NADEL zur Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA)?
Brugger: Der MAS ETH in Development and Cooperation war von Anfang an ein Gemeinschaftsprojekt zwischen der ETH und der DEZA. Während die ETH die Verantwortung für die zwei Studiensemester übernimmt, finanziert die DEZA Projekteinsätze über zwei Semester rund um den Globus. Auch dürfen wir immer wieder Gastdozierende der DEZA bei unseren Studiengängen begrüssen, oft ehemalige Studentinnen und Studenten des NADEL. Wir arbeiten zudem mit der DEZA zusammen, wenn es um die Nutzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Entwicklungszusammenarbeit geht.
Was wünschen Sie sich in Zukunft für das Institut?
Günther: Für die nächsten 50 Jahre: dass internationale Zusammenarbeit für globale Chancengleichheit Teil der DNA der ETH wird. Ausserdem würde ich mir wünschen, dass weltweit keine Menschen mehr unter wirtschaftlicher Ungleichheit leiden müssen.
Brugger: Dem kann ich nur zustimmen.
50 Jahre NADEL
1970 wurde an der ETH Zürich das Center for Development and Cooperation, kurz NADEL, gegründet. Mit einem Corona-bedingten Jahr Verspätung feiert das NADEL nun sein 50-jähriges Bestehen mit einer Reihe von öffentlichen Events und Vorträgen. Auf der Jubiläumswebseite finden Sie weitere Informationen zum geplanten Programm.