Seltsames Fossil ist nicht unser Vorfahre
In 535 Millionen Jahre altem Gestein in China findet sich ein rätselhaftes Mikrofossil, dessen evolutionäre Zugehörigkeit heftig diskutiert wird. Saccorhytus wurde ursprünglich 2017 als ein uraltes Deuterostom beschrieben, ein Mitglied der Gruppe, aus der unsere eigenen Vorfahren hervorgegangen sind. Es ist mikroskopisch klein – etwa ein Millimeter im Durchmesser – und ähnelt einem stacheligen, faltigen Sack, mit einem von Stacheln umgebenen Mund und Löchern, die als Kiemenporen interpretiert wurden, ein primitives Merkmal der Gruppe. Dies führte zu einem unerwarteten Ursprung der Deuterostomier, und zwar zu sandkorngrossen Organismen, die im Sand oder im Meer gelebt haben könnten. Die Beweise für diese These waren jedoch immer sehr schwach. Waren die Löcher um den Mund wirklich Kiemenporen?
Die Forschenden versuchten diese Frage zu klären, indem sie neue Exemplare von Saccorhytus sammelten, tonnenweise Gestein mit konzentriertem Essig auflösten und die so entstandenen Sandkörner nach den seltenen Fossilien durchsuchten. Die Fossilien sind nicht mehr selten – die Teams bargen Hunderte von Exemplaren, von denen viele deutlich besser erhalten sind als alle zuvor gesehenen und neue Erkenntnisse über die Anatomie und die evolutionäre Verwandtschaft von Saccorhytus liefern.
«Einige der Fossilien sind so perfekt erhalten, dass sie fast lebendig aussehen», sagt Yunhuan Liu, Professor für Paläobiologie an der Chang'an Universität in Xi'an, China. «Saccorhytus war ein merkwürdiges Tier mit einem Maul, aber ohne Anus, und mit Ringen komplexer Stacheln um sein Maul.»
Röntgenlicht enthüllt die Geheimnisse der Kiemenporen
Die wahre Geschichte der Abstammung von Saccorhytus liegt in den mikroskopischen inneren und äusseren Merkmalen dieses winzigen Fossils. Um diese zu enthüllen, nutzten die Forschenden die Röntgenstrahlen der Synchrotron Lichtquelle Schweiz SLS. An der TOMCAT-Strahllinie konnten sie eine Technik namens röntgentomographische Mikroskopie anwenden. «Diese Technik funktioniert wie ein medizinischer CT-Scanner, aber dank der sehr intensiven Strahlung moderner Synchrotronanlagen wie der SLS können winzige Merkmale von weniger als einem Tausendstel Millimeter Grösse in kurzer Zeit sichtbar gemacht werden», erklärt Federica Marone, Strahllinienwissenschaftlerin an der TOMCAT der SLS.
Durch die Aufnahme von Hunderten von Röntgenbildern aus leicht unterschiedlichen Winkeln konnte mit Hilfe von leistungsstarken Computern ein detailliertes digitales 3-D-Modell des Fossils rekonstruiert werden. «Die Synchrotron-Mikrotomografie hat sich zu einem Schlüsselinstrument in der Paläontologie entwickelt, und diese Arbeit zeigt, welche erstaunliche Details in den Fossilien erhalten bleiben können, aber auch, wie leistungsfähig Röntgenmikroskope sind, wenn es darum geht, im Stein geborgene Geheimnisse zu lüften, ohne wertvolle und empfindliche Fossilien zu zerstören», sagt Marone.
Als die weltweite Pandemie ausbrach, konnten die Paläontologen das Synchrotron nicht selbst besuchen. Glücklicherweise konnte die Analyse trotzdem fortgesetzt werden. «Sie schickten uns die Proben per Post, und wir führten für sie die tomographischen Scans an der TOMCAT-Strahllinie durch. Dank der langjährigen Zusammenarbeit der beteiligten Teams hatten die Paläontologen bereits Erfahrung damit, wie man das Material am besten für die Analyse vorbereitet und montiert, und wir kannten die Bildqualität, die erforderlich war, um die relevanten Informationen zu extrahieren», erklärt Marone. «Saccorhytus ist eines der seltsamsten Fossilien, die ich je gesehen habe.»
Saccorhytus aus dem Stammbaum streichen
Durch die Röntgentomographien erhielten die Paläontologen schliesslich eine Antwort: Saccorhytus war kein Deuterostom und hat nichts mit unserem evolutionären Ursprung zu tun. Es gibt keine Kiemenporen – die Löcher rund um den Mund entpuppten sich als die Basen von Stacheln, die während der Konservierung der Fossilien abgebrochen sind. Tatsächlich zeigten die digitalen Modelle, dass die Poren um den Mund herum durch eine andere Körperschicht verschlossen wurden, die durch sie hindurchragte, wodurch die Stacheln um den Mund herum entstanden. «Wir glauben, dass diese Stacheln Saccorhytus geholfen haben, seine Beute zu fangen und zu verarbeiten», meint Huaqiao Zhang vom Nanjing Institute of Geology and Palaeontology.
Aber wenn Saccorhytus kein Deuterostom war, was war es dann? Die Forschenden glauben, dass es sich bei Saccorhytus tatsächlich um ein Mitglied der Ekdysozoa handelt: eine Gruppe, die Gliederfüsser und Fadenwürmer umfasst. «Wir haben viele alternative Gruppen in Betracht gezogen, mit denen Saccorhytus verwandt sein könnte, darunter Korallen, Anemonen und Quallen, die ebenfalls einen Mund, aber keinen Anus haben», sagt Phil Donoghue, Professor für Paläobiologie an der Universität Bristol, der die Studie mit geleitet hat. «Um das Problem zu lösen, verglich unsere Computeranalyse die Anatomie von Saccorhytus mit allen anderen lebenden Tiergruppen und kam zu dem Schluss, dass sie den Arthropoden und ihren Verwandten nahestehen, also der Gruppe, zu der auch Insekten, Krebse und Spulwürmer gehören.»
Der mysteriöse Fall des verschwundenen Afters
Das Fehlen eines Afters bei Saccorhytus ist ein verblüffendes Merkmal an diesem mikroskopisch kleinen, uralten Organismus. Auch wenn die Frage nach dem alternativen Weg der Verdauungsabfälle (aus dem Mund, eher unerwünscht) im Raum steht, ist dieses Merkmal aus einem wichtigem Grund fundamental für die Evolutionsbiologie. Wie der Anus entstand – und manchmal auch wieder verschwand – trägt dazu bei, dass wir verstehen, wie sich der Körperbau von Tieren entwickelt hat. Wenn wir Saccorhytus statt zum Deuterostom zu einem Mitglied der Ekdysozoa erklären, bedeutet das, dass wir einen verschwundenen Anus aus der Geschichte der Deuterostomia streichen und ihn zu den Ekdysozoa hinzufügen.
«Dies ist ein wirklich unerwartetes Ergebnis, da die Gliederfüsser einen durchgehenden Darm haben, der sich vom Mund bis zum Anus erstreckt. Die Zugehörigkeit von Saccorhytus zu dieser Gruppe deutet darauf hin, dass er sich evolutionär zurückentwickelt hat und auf den Anus verzichtet, den seine Vorfahren geerbt haben», sagt Shuhai Xiao von Virginia Tech in den USA, der die Studie mit geleitet hat. «Wir kennen die genaue Position von Saccorhytus im Stammbaum des Lebens noch nicht, aber sie könnte den Urzustand widerspiegeln, aus dem sich alle Mitglieder dieser vielfältigen Gruppe entwickelt haben.»