Quantencomputer bereits heute nutzen
An fehlerfreien Quantencomputern wird noch intensiv geforscht. Die darin verwendeten Quantenobjekte können jedoch bereits für wissenschaftliche Simulationen genutzt werden. „Die zentrale Idee ist, ein Rechenproblem anders anzugehen – nämlich indem man die Quantenprozesse selbst direkt nachahmt, anstatt diese schrittweise zu berechnen,“ erklärt Cornelius Hempel, Leiter des Labors für Quantencomputing mit Ionenfallen am PSI.
Ein solcher Ansatz könnte am Freie-Elektronen-Röntgenlaser SwissFEL von Nutzen sein. Hier lassen sich die ultraschnellen chemischen Prozesse und die Quanteneigenschaften der beteiligten Moleküle nun detaillierter als je zuvor untersuchen. Um diese Möglichkeiten optimal nutzen zu können und die Ergebnisse zu verstehen, bedarf es jedoch geeigneter Berechnungswerkzeuge.
„Wenn wir untersuchen, wie sich Moleküle während einer chemischen Reaktion verhalten, müssen wir nicht nur das Verhalten der einzelnen Elektronen der beteiligten Atome berücksichtigen, sondern die Bewegungen und die Schwingungen ihrer Kerne, welche aus Protonen und Neutronen bestehen,“ erklärt Hempel. „Computersimulationen konzentrieren sich oft lediglich auf die Elektronen, und stossen selbst dort schnell an ihre Grenzen. Nimmt man den Atomkern hinzu, scheitern sie fast sofort, und bei den meisten Molekülen ist dies gar nicht möglich.“
Hempels Lösung besteht in einer Technik, die als analoge Quantensimulation bekannt ist. Dabei stellen die Forscher ein Problem, das sie noch nicht verstehen, mithilfe eines gut kontrollierten Quantensystems dar, das sie bereits verstehen. „Da wir den Quantenprozess auf einem Quantencomputer durchführen, ist er viel besser zugänglich als bei der eigentlichen chemischen Reaktion,“ sagt Hempel.
100 Milliarden Mal langsamer als in der Natur
Einen ersten Erfolg in dieser Richtung hat Hempel nun mit seinem früheren Team an der Universität Sydney erzielt. Mithilfe eines Quantencomputers, der mit gefangenen Ionen rechnet, konnten die Forscher erstmals den wesentlichen Teil einer extrem schnell ablaufenden quantenchemischen Reaktion rekonstruieren.
Während seiner Tätigkeit als Projekteiter an der Universität Sydney entwickelte Hempel zusammen mit dem Chemiker Ivan Kassal ein Forschungsprogramm zur Simulation von Quantenphänomenen, wie sie bei chemischen Reaktionen auftreten. Ziel war es, diese Simulation auf dem Prototyp eines Quantencomputers durchzuführen, den sein Team gerade baute. Ihre erfolgreiche Studie ist kürzlich in der Fachzeitschrift Nature Chemistry erschienen.
In ihrer Studie konzentrierten sich die Forscher auf ein ganz bestimmtes Phänomen: sogenannte „konische Durchschneidungen“. Während einer photochemischen Reaktion wird Energie blitzschnell zwischen Molekülen übertragen. Dabei bilden sich Austauschzonen zwischen unterschiedlichen Energiezuständen eines Moleküls, die als konischen Durchschneidungen bezeichnet werden – ein Name, der sich von der trichter- oder kegelförmigen Überschneidung der Potenzialflächen ableitet, in deren Umfeld die Reaktionen stattfinden. Konische Durchschneidungen sind in der gesamten Chemie bekannt und dienen als unerlässliche „energetische Trichter“ zwischen den molekularen Zuständen einer Reaktion.
Seit den 1950er Jahren arbeiten Forscher daran, solche Durchschneidungen in der chemischen Dynamik direkt zu beobachten. Angesichts der extrem kurzen Zeiträume, in denen sie stattfinden, ist dies jedoch eine äusserst anspruchsvolle Aufgabe: Die Prozesse spielen sich innerhalb von Femtosekunden – dem Millionstel einer Milliardstel Sekunde – ab.
Um beobachten zu können, wie sich ein Wellenpaket im Umfeld einer simulierten konischen Durchschneidung verhält, verwendeten die Forscher ein einzelnes Ion, welches mit einer komplexen und präzise abgestimmten Folge von Laserpulsen gesteuert und vermessen wurde. Zum Schluss wurde das mathematische Modell, das die konische Durchschneidung beschreibt, auf das Ionensystem übertragen. Das Ion konnte sich dann entsprechend dem simulierten Molekül um die so konstruierte Durchschneidung herum entwickeln.
Auf diese Weise gelang es den Forschern, den gesamten Vorgang um das 100-Milliarden-fache zu verlangsamen, sodass sich die in diesen Strukturen zu erwartenden Energiewechselwirkungen erstmals messen liessen.
Machbarkeitsnachweis mit praktischer Anwendung
Diese Ergebnisse, sowie künftige komplexere Simulationen, könnten einerseits zu einem genaueren Verständnis beitragen, wie sich Moleküle in extrem kurzen Zeiträumen verändern. Dies könnte wiederum helfen, Prozesse besser zu beschreiben, an denen solche Moleküle beteiligt sind, z. B. Smogbildung, Ozonabbau oder die Entwicklung besserer Materialien zur Nutzung der Sonnenenergie. Auch in der Biologie spielen diese Prozesse eine zentrale Rolle. So beruht das menschliche Sehvermögen auf einer ultraschnellen photochemischen Reaktion, die sich über eine konische Durchschneidung bewegt.
Andererseits zeigt das Ergebnis auch, wozu Quantencomputer bereits heute in der Lage sind. „Unser Experiment ist im Grunde ein Machbarkeitsnachweis,“ erklärt Cornelius Hempel. „Es zeigt einen alternativen Ansatz zur Lösung eines Problems aus der Chemie, bei dem Quantencomputer in einer Weise eingesetzt werden, die bereits heute machbar ist – wenn auch noch nicht in einer Grössenordnung, die etwas so Kompliziertes wie die Modellierung des menschlichen Sehvermögens erlaubt.
Quantensimulationen in der Nähe von Grossforschungsanlagen
Hempel forscht derzeit mit seinem Team an der Entwicklung von hochskalierten, fehlerfreien Quantencomputern und will diese erste Machbarkeitsstudie weiterentwickeln und in naher Zukunft mit Kollegen, die an anderen Quantencomputer-Plattformen arbeiten, Quantensimulationen am PSI durchführen: „Unsere Methode funktioniert nicht nur mit gefangenen Ionen, sondern auch mit anderen Arten von Quantencomputern, die ebenfalls am PSI erforscht werden.“ Im Rahmen des Labors für Nano- und Quantentechnologien versuchen Hempel und seine Kollegen nun diese Technologien gezielt voranzutreiben, um die Experimente an den Grossforschungsanlagen des PSI zu ergänzen.
Über den Quantum Computing Hub
Der Quantum Computing Hub wurde vor zwei Jahren von der ETH Zürich und dem Paul Scherrer Institut als gemeinsam betriebene Forschungseinrichtung ins Leben gerufen. Am Hub arbeiten die Forscher an zwei verschiedenen Architekturen für Quantencomputer: Qubits aus supraleitenden Schaltkreisen und Qubits, die in gefangenen Ionen gespeichert werden. Bei der ersten Methode werden Schaltkreise aus supraleitenden Materialien verwendet – das sind Materialien, die Strom ohne elektrischen Widerstand leiten und bei extrem kalten Temperaturen Eigenschaften aufweisen, die sich zum Speichern von Qubits nutzen lassen. Beim zweiten Verfahren werden hingegen einzelne Ionen in einer Vakuumapparatur eingefangen und mit Laserlicht manipuliert. Die beiden Verfahren stellen aktuell die fortschrittlichsten Architekturen für den Bau eines Quantencomputers dar und sind daher auch der Ausgangspunkt für die Forschung am Hub.
Am SwissFEL untersuchen Strukturbiologen zum Beispiel die konische Durchschneidung, die dem menschlichen Sehvermögen zugrunde liegt. Mithilfe der äusserst kurzen Röntgenblitze, die der SwissFEL erzeugt, lassen sich extrem schnelle Prozesse untersuchen, bei denen Photonen absorbiert und in biologische Signale umgewandelt werden. Hempel ist zuversichtlich, dass die enge Zusammenarbeit mit Forschungsgruppen im Bereich der Biologie und der Chemie am PSI, die sich experimentell mit biologischen Rezeptoren beschäftigen, bei denen konische Durchschneidungen eine Schlüsselrolle spielen, von grossem Vorteil sein wird.
„Wir haben nachgewiesen, dass analoges Quantencomputing für einfache chemische Reaktionen funktioniert. Der nächste Schritt wird darin bestehen, unsere Geräte entsprechend auszubauen, damit wir komplexere Moleküle wie diese Fotorezeptoren simulieren können. Die Beiträge unserer Kollegen werden es uns hoffentlich ermöglichen, unsere Simulationen so weit voranzutreiben, dass sie bei der Interpretation experimenteller Daten behilflich sein können. Das wäre ungeheuer spannend,“ fügt er hinzu.